Carl Scholl (1820-1907)

Vom evangelischen Geistlichen zum Freidenker

Helmut Steuerwald (Nürnberg)


Eine außergewöhnliche Beerdigung

"Am 15. September, nachmittags 3 Uhr, versammelten sich auf dem Theresienplatze <in Nürnberg> Tausende von Menschen, um mit zwei roten schwarzumflorten Fahnen, den Parteibannern von Nürnberg und Fürth, zum Johannisfriedhof zu ziehen, der die Massen kaum zu fassen vermochte. Namens der sozialdemokratischen Partei widmete Memminger, nach der Gedächtnisrede Carl Scholls, dem großen Toten herzliche Abschiedsworte. Unter dem Schatten der roten Fahnen senkte sich der Sarg die Gruft hinab."(1)

Es war in der aufkommenden Industriestadt Nürnberg ein Ereignis sondergleichen als Ludwig Feuerbach, der am 13. September gestorben war, am 15. September 1872 auf dem historischen Johannisfriedhof, auf dem Albrecht Dürer und viele andere berühmte Persönlichkeiten liegen, beerdigt wurde. Man sprach von 10.000 Menschen, die bei der Bestattung anwesend waren, obwohl damals die Stadt noch keine 100.000 Einwohner hatte. Hauptredner am Grabe war der freireligiöse Sprecher Carl Scholl. Die Sozialdemokratie, die Freireligiöse Gemeinde, Gewerkschaften aber auch liberale bürgerliche Verbände hatten aufgerufen, zur Bestattung zu kommen. Im Aufruf der sozialdemokratischen Partei hieß es: "Weder der politische noch der soziale Standpunkt, zu dem er sich mit uns bekannte, wird Euch hindern, uns die Hand zu reichen zu einer Massendemonstration gegen das Pfaffenthum!"(2)

Es war vor allem das Verdienst von Carl Scholls, Prediger und Sprecher der "Freireligiösen Gemeinde" in Nürnberg, dass Ludwig Feuerbach – der recht zurückgezogen am Rechenberg in Nürnberg wohnte – in breiten Kreisen der Bevölkerung bekannt wurde. Scholl war ein glühender Anhänger der Philosophie Ludwig Feuerbachs und hatte es wie kein anderer verstanden, die Lehren Ludwig Feuerbachs in Vorträgen und Schriften volkstümlich zu verbreiten. So hielt er auch die Trauerrede an seinem Grab, die dann nicht nur in seiner bekannten Monatsschrift "Es werde Licht" erschien, sondern auch in Sonderdrucken, die mehrmals aufgelegt wurden. Wer war dieser Carl (später auch mit K geschrieben) Scholl? Woher kam er?

Ein evangelischer Geistlicher kehrt der Kirche den Rücken

Schauen wir zurück: Im 18. Jahrhundert hatte sich vor allem in Frankreich die Philosophie der Aufklärung durchgesetzt. Philosophen wie Voltaire, Rousseau, Diderot, d’Dalembert, Helvétius, d’Holbach oder La Mettrie hatten eine neue Zeit eingeläutet, und dies zeigte politische Auswirkungen in der "Französischen Revolution" oder auch schon vorher bei der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, die unter anderem zu einer klaren Trennung von Staat und Kirche führte. In Deutschland ging es langsamer voran, und die Philosophen vertraten nicht so radikale Forderungen. Hier waren es Philosophen wie Leibnitz, Kant, Hegel und eben später Feuerbach, welche sich zur Aufklärung bekannten. Durch die Philosophie der Aufklärung wurden die Religionen und vor allem ihre Institutionen einer schonungslosen Kritik unterworfen, und es kam zur historisch-kritischen Aufarbeitung. Das heißt: Fortschrittliche Theologen und Religionswissenschaftler setzten sich kritisch mit dem eigenen Christentum auseinander, vor allem mit seiner Geschichte. Der Junghegelianer und Theologe David Friedrich Strauß (1808-1874) hat in seinem Fundamentalwerk "Leben Jesu" (1835/36) die Bibel entmythologisiert, ein weiterer Theologe, Bruno Bauer (1809-1882), stellte die Historizität Jesu und die der Evangelien überhaupt in Frage.

Carl Scholl wurde am 17. August 1820 in Karlsruhe geboren. Er kam aus einer Familie, welche mehrere Pfarrer hervorgebracht hatte; so war auch sein Großvater Pfarrer. Nach dem Lyzeumsbesuch in seiner Heimatstadt studierte Carl ab 1838 in Tübingen Philosophie und Theologie. Zunächst von tiefem kirchlichem Glauben beseelt, änderte er seine Haltung, als er sich während des Studiums mehr der Philosophie der Aufklärung zuwandte und damit neue Erkenntnisse erwarb. Die Lehren Hegels, sowie die kritische Theologie und Jesusforschung bei David Friedrich Strauß und anderen, hinterließen bei ihm einen tiefen Eindruck. Die Lehren Giordano Brunos hatten ihn ebenfalls beeinflusst. Scholl vertrat nun stärker pantheistische Vorstellungen. Wie einige andere junge angehende Theologen ging er kritisch mit den Lehren des Christentums um, vor allem mit kirchlichen Dogmen und Vorstellungen.

In einem Gedicht aus dem Jahr 1840 schrieb der damals Zwanzigjährige:

"Zweifel, zweifeln, immer zweifeln
ist die große Tagparol’,
Dringt zum Himmel selber aufwärts,
Alles ist des Zweifels voll.
Aus der Kindheit Traum mich reißend
Rauben sie mir meinen Gott,
was mich einst so tief durchschauert,
was ich glaubte, wird zum Spott."(3)

Nachdem Scholl 1842 seine Studien am Predigerseminar in Heidelberg beendet hatte, wurde er Lehrer in Karlsruhe am Lyzeum. Zusätzlich hatte er Predigten und Gottesdienste in der Stadtkirche zu halten. Seine kritischen Äußerungen zu den überkommenen Lehren führten dazu, dass die Kirchenobrigkeit auf ihn aufmerksam wurde. Er wurde bald abgemahnt. Carl Scholl ließ sich aber nicht beirren, blieb weiter kritisch, und so hat er in seiner Predigt am 5. Januar 1845 in der Stadtkirche in Mannheim u. a. geäußert:

"Wir vergessen nämlich nur zu oft, dass die Bibel ein Buch ist, das nicht vom Himmel herunterfiel, sondern das geschrieben wurde von Menschen, und das im Lauf der Jahrhunderte, unter der Hand der Menschen, gar viele Veränderungen erlitten hat.

…Religionen, Kirchen sind entstanden und sind untergegangen und nahe am Vergehen! ..."(4)

Darüber hinaus zeigte er in dieser Predigt viele Widersprüche im Glauben auf und lehnte die Unsterblichkeit im Sinne der kirchlichen Vorstellungen ab.

So kam es wie es kommen musste: Carl Scholl wurde suspendiert. In dem Beschluss des Evangelischen Oberkirchenrates von Karlsruhe vom 17. Januar 1845 heißt es:

"Mit einer höchst auffallenden Unbesonnenheit und Verwegenheit hat derselbe in seiner Predigt Äußerungen gethan, welche den Glauben an die göttliche Autorität, Echtheit und Unverfälschtheit der in der hl. Schrift enthaltenen Bücher angreifen, mit den Lehren von der Offenbarung Gottes, von der höhern Geisteswelt, und von den Sünden in Widerspruch stehen, und sogar die Unsterblichkeit im christlichen Sinn des Wortes, die Fortdauer in einem zukünftigen Leben leugnen…"(5)

Scholl stand aber mit seiner Haltung nicht alleine. In diesen Jahren des "Vormärzes" kam es von verschiedenen Seiten zu kritischen Einstellungen gegenüber der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit. Neue politische, soziale und kulturelle Bewegungen entwickelten sich, so auch im kirchlichen Lager. Auf evangelischer Seite bildete sich die Bewegung der "Protestantischen Freunde", zunächst ein Zusammenschluss von 16 Pfarrern, die sich gegen den vorhandenen Pietismus wandten, gegen den Dogmatismus ihrer Kirchenvertreter und dabei aufklärerisches Gedankengut vertraten. Sie wurden als "Lichtfreunde" bezeichnet.(6) Zu diesem Kreis hatte auch Carl Scholl Kontakt gefunden.

Auf katholischer Seite war es nicht anders: Hier hatte sich der Kaplan Johannes Ronge hervorgetan. In einem offenen Brief wandte er sich im Oktober 1844 gegen die Zurschaustellung des so genannten "Heiligen Rockes" in Trier. Dieser Brief löste ungeheuere Resonanz aus und wurde häufig nachgedruckt; die Exemplare gingen in die Hunderttausende. Ronge fand viele Anhänger, so unter anderen den dann in der Revolution von 1848 bedeutenden Abgeordneten Robert Blum. In der Folge kam es zur Gründung "Deutsch-katholischer Gemeinden".

Deutschkatholische Gemeinden und die Lichtfreunde fanden sich im Wirken gegen überkommene christliche Vorstellungen zusammen, ja sie gründeten gemeinsam Gemeinden mit unterschiedlichen Bezeichnungen. Aus diesen Gemeinden entwickelte sich später die freireligiöse Bewegung.

Wegbereiter freigeistiger Anschauungen

So wie in anderen Städten wurde auch in Mannheim am 17. August 1845 eine deutschkatholische Gemeinde gegründet.(7) Am 4. Januar 1846 hielt dort Carl Scholl einen Vortrag, der viel Anklang fand und der dazu führte, dass er kurz darauf als Prediger angestellt wurde. Allerdings übte er diese Tätigkeit nur ein Jahr aus: Es kam nämlich zu Konflikten, da Scholl verschiedene aus dem Katholizismus kommende Rituale ablehnte und vor allem aber auch, weil er für die Gleichberechtigung der Frauen in der Gemeinde eintrat und verlangte, dass diese das gleiche Stimmrecht erhalten sollten wie die Männer. Für die damalige Zeit eine außergewöhnliche, revolutionäre moderne Forderung!

Am 4. Februar 1847 legte er sein Amt nieder und gründete mit anderen fortschrittlichen Kräften in dieser vorrevolutionären Zeit einen "Montagsverein", in dem wissenschaftliche und religionskritische Vorträge gehalten wurden und der ein Oppositionsforum gegen die verkrustete staatliche Politik darstellte.(8)

Im Sommer 1847 ging Scholl nach Hamburg und nahm dort die Stelle eines Hauslehrers an. Das Revolutionsjahr 1848 riss ihn aus seiner Zurückgezogenheit, und er beteiligte sich an Veranstaltungen. Er ging nach Österreich, wo er in Wien Massenkundgebungen abhielt. Anschließend finden wir ihn in Graz, wo er mit Johannnes Ronge dort die deutschkatholische Gemeinde gründete. Als in Österreich die Revolution zusammenbrach und die Reaktion siegte, wurde er verfolgt und des Landes verwiesen.(9)

Scholl selbst schrieb über diese Ausweisung:

"Mir persönlich wurde der Vorwurf des ‚Communismus’ im Mai 1849 in Graz von dem Präsidenten von Steiermark, Herrn von Marquet gemacht… und der behauptet, das von mir damals herausgegebene "Sonntagsblatt", das nur für die freien Gemeinden in Oesterreich bestimmt war, predige auf allen Seiten diese verderblichen Grundsätze."(10)

Im Übrigen vertrat Scholl damals, wie erst recht später, keine extremen fanatischen politischen Anschauungen und war nie ein Parteimensch, auch wenn er aktiv am politischen Geschehen Anteil nahm.

Scholl kehrte nach Deutschland zurück, wurde Prediger in der neugegründeten "Freien christlichen Gemeinde" in Schweinfurt und konnte sich dort entfalten und viele seiner fortschrittlichen, aufgeschlossenen Vorstellungen einbringen. Von hier aus beteiligte er sich aktiv an Vorbereitung und Durchführung des freireligiösen Konzils in Leipzig am 23. Mai 1850, an dem einhundert deutschkatholische und freie Gemeinden teilnahmen. Nach der Niederwerfung der bürgerlich-revolutionären Bewegung in Deutschland wehte nun auch hier ein anderer Wind, und das Konzil wurde von der Polizei aufgelöst.

Verbote und Verfolgungen waren an der Tagesordnung. Carl Scholl ging nach London, später nach Paris, wo man ihn kurzzeitig inhaftierte, da er von Österreich aus steckbrieflich gesucht wurde. Im September 1852 kommt er nach Karlsruhe, von wo er allerdings wieder fliehen musste, nachdem er wegen "Hochverrats" erneut zur Fahndung ausgeschrieben worden war.

Scholl ging daraufhin in die freiere Schweiz und blieb die nächsten Jahre dort, wo viele bekannte Revolutionäre wie Richard Wagner oder Georg Herwegh mit ihm verkehrten.1855 wurde er Leiter des "Züricher Aktientheaters", und er übte diese Tätigkeit aus, bis ihm 1858 die Rückkehr nach Deutschland möglich war. In Freiburg leitete er nun dort das Theater. Seiner inneren Berufung folgend, wollte er aber wieder in der freireligiösen Bewegung wirken, die gegen Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts vielerorts erneut zugelassen wurde. So kam es, dass Scholl sich erneut bereit erklärte, als Sprecher und Prediger in der Gemeinde von Mannheim zu wirken, falls dort folgende Bedingungen erfüllt würden: Namensänderung von "Deutsch-katholische Gemeinde" in "Freireligiöse Gemeinde" und – Predigen ohne Talar. Beide Bedingungen wurden von der Gemeinde erfüllt, und so geschah es, dass Scholl von 1860 bis 1868 in Mannheim wieder als Prediger wirkte.

Im Jahre 1868 verlegte er seinen Wohnsitz nach Nürnberg und wurde hier nun Sprecher und Prediger der "Freireligiösen Gemeinde". In der aufstrebenden Industriestadt Nürnberg war man offen für seine Ansichten. Scholls Vorträge bekamen überregionale Bedeutung. Sie wurden häufig nachgedruckt, auch wurde er von den anderen freireligiösen Gemeinden Nordbayerns gern als Redner in Anspruch genommen. Scholl schaffte es, in Zusammenarbeit mit anderen aktiven Mitgliedern der Freireligiösen Gemeinde in Nürnberg, neue Wege zu beschreiten, und dass man sich loslöste von überkommenen christlichen Ritualen und Inhalten und sich den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen zuwandte – vor allem dem Darwinismus. Eine rege breite Bildungsarbeit wurde geleistet, auch im Kontakt mit Arbeitervereinen. Scholl stellte die Bedeutung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft heraus und sorgte dafür, dass die Gemeinschaft ihren verdienten Platz in Politik und Gesellschaft bekam. Ein freireligiöser Unterricht wurde eingeführt, der zwar vom konservativen bayerischen Staat nicht offiziell anerkannt, aber vom Stadtrat und der Stadtverwaltung unterstützt wurde. Scholl hielt unter anderem Vorträge über das Verhältnis von Politik und Weltanschauung, und er ging dabei auch ein auf das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Freireligiösen Gemeinde. Er stellte die unterschiedlichen Ausgangspositionen heraus, übte dabei auch Kritik, betonte aber die Notwendigkeit der Zusammenarbeit.

Im Dezember 1869 gab Carl Scholl erstmals die Monats-Zeitschrift "Es werde Licht! Beiträge zur Förderung der Religion der Humanität" heraus. Diese Zeitschrift, deren Beiträge größtenteils aus seiner Feder stammten, leitete er über dreißig Jahre. Erst mit über 80 gab er sie in andere Hände. Die Zeitschrift erschien weiter bis in die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Wegen der Arbeit an dieser Zeitschrift und seiner allgemeinen Vortragstätigkeit unterbrach er Anfang der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts seine Tätigkeit als Prediger für einige Zeit und war nur noch freier Mitarbeiter. Nürnberg blieb jedoch Mittelpunkt seines Lebens. Hier in dieser Stadt knüpfte er enge Beziehungen, ja eine Freundschaft zu dem alternden Ludwig Feuerbach. Rege bemüht er sich auch um Spenden für diesen nun in Krankheit und Armut lebenden Philosophen.

1880 entstand der "Internationale Freidenkerbund". Im Jahr darauf wurde dazu aufgerufen den "Deutschen Freidenkerbund" zu gründen. Zu denjenigen, die den Aufruf unterstützten und dann den Verband gründeten, gehörte auch Carl Scholl neben anderen bedeutenden Persönlichkeiten wie Ludwig Büchner, Otto von Corvin oder Dr. A. Dulk. Scholl war beim Gründungskongress in Frankfurt zugegen und wurde dort auch in den "Ausschuss", in die Führungsmannschaft, gewählt.(11) In den folgenden Jahren bemühte sich Scholl sehr um die Zusammenarbeit der freigeistigen Organisationen.

Mehrere Male wurde Carl Scholl auf Grund seiner Weltanschauung gerichtlich belangt, z. B. wegen "Eidesverweigerung". Er vertrat mutig seine Einstellung; politisch wurde er von liberalen und sozialdemokratischen Kräften dabei unterstützt.

Als Herausgeber des "Es werde Licht!" und als Sprecher blieb Carl Scholl bis 1899 in Nürnberg. Aus Altersgründen gab der nun fast 80-Jährige diese Tätigkeit auf und zog nach München. Er hielt noch Vorträge und schrieb weiterhin. Am 26. März 1907 starb Carl Scholl. Seine Asche wurde seinem Wunsch entsprechend nach Mannheim überführt; von der Stadt erhielt er dort ein Ehrengrab. An verschiedenen Orten fanden größere Gedächtnisveranstaltungen statt, vor allem auch in Nürnberg.

Carl Scholl und Ludwig Feuerbach

Schon in jungen Jahren wurde Carl Scholl mit dem Werk Ludwig Feuerbachs konfrontiert, und er vertrat in vielen Bereichen ähnliche Anschauungen. Beide waren ja stark beeindruckt von den Junghegelianern, beide hatten auch frühzeitig einen starken Bezug zu den pantheistischen Lehren von Giordano Bruno und verehrten ihn sehr. Je mehr sich Scholl mit den Lehren Ludwig Feuerbachs befasste, desto stärker übernahm er dessen Anschauungen und vertrat diese auch nach außen. Als Carl Scholl 1868 nach Nürnberg übergesiedelt war, lernte er alsbald Ludwig Feuerbach persönlich kennen, und zwischen den Familien entwickelte sich Freundschaft. Scholl stellte auch die Verbindung zwischen Feuerbach und den Freireligiösen Gemeinden her. So nahm Ludwig Feuerbach im Juni 1870 auch an der Jahresversammlung (Synode) der südwestdeutschen freien religiösen Gemeinden in Nürnberg teil.(12)

Durch seine Zeitschrift "Es werde Licht!" brachte Scholl breiten Schichten der Bevölkerung die Ansichten und Lehren des großen Philosophen näher. Carl Scholl schrieb auch ein Gedicht im Jahre 1871 – also am Ende des Deutsch-Französischen Krieges – zum 67. Geburtstag von Ludwig Feuerbach unter dem Titel "Auch ein Held!". Darin heißt es:

"Am Rechenberg, da wohnt ein stiller Mann,
Heut’ ist sein Ehrentag: o denke seiner!
Ein Held des Geistes, der gekämpft wie Keiner,
Ein Feldmarschall im Kampfe mit dem Wahn!

Ihm ward gelohnet nicht, wie Andern, ach!
Die Nachwelt erst wird ganz versteh’n ihn lernen,
Doch heute’ schon glänzt unter der Menschheit Sternen
Sein Heldenname: Ludwig Feuerbach.(13)

Als Feuerbach kränkelte und in wirtschaftliche Not geriet, rief Scholl in seiner Zeitschrift zu Spenden auf. Während der Krankheit des Philosophen begleitete Scholl die Familie Feuerbach. Er veröffentlichte auch einen Artikel über "Ludwig Feuerbachs letzte Stunden"(14). Wie eingangs schon erwähnt, wurde die Beerdigung zu einer mächtigen Demonstration gegen den christlich geprägten Konservativismus. In seiner Bestattungsansprache am 15. September 1872 sagte Carl Scholl:

"Was vor drei Jahrhunderten Copernicus, ein Keppler, ein Galiläi der Erde gethan, indem sie derselben in ihrem Verhältniß zur Sonne und zu allen übrigen Gestirnen den ihr gebührenden Platz im Weltall angewiesen, dasselbe hat Ludwig Feuerbach gethan für den Menschen, für die Menschheit."(15)

Auch nach dem Tod des großen Philosophen wurde Scholl nicht müde, dessen Bedeutung in Wort und Schrift herauszustellen. Als die Ehegattin Ludwig Feuerbachs am 19. Juni 1883 starb, hielt er zwei Tage darauf ebenfalls die Bestattungsansprache: In flammenden Worten stellte er die großartige Rolle dieser Frau heraus und den schwierigen Weg, den beide gemeinsam gegangen waren. In der Bevölkerung hielt Scholl das Andenken an den großen Philosophen wach. Er erinnerte immer wieder an die "Pflicht", bedeutende Persönlichkeiten im Gedächtnis zu behalten, so auch in seiner Ansprache "Dem Andenken Ludwig Feuerbachs" vom 8. September 1889, in der es heißt:

"Diese Pflicht erfüllen wir heute , indem wir uns des Mannes erinnern, der als einer der größten Geister, der kühnsten und tiefsten Forscher und Denker, in diesen nämlichen Septembertagen vor siebzehn Jahren sein Auge geschlossen, des Mannes, der, wie alle Freidenkenden, so insbesondere uns freien Gemeinden, als einer unserer ersten und edelsten Vorläufer und Vorkämpfer unvergessen ist…"(16)

Das Werk und die Bedeutung von Carl Scholl

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Carl Scholl zu den bedeutendsten Kräften gehört, die im 19. Jahrhundert die freigeistige Bewegung geschaffen und vorangetrieben haben.

In den Gründungsjahren und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die führenden Prediger und Sprecher der freireligiösen Bewegung meist ehemalige Geistliche der beiden Großkirchen, die damals viel Mut bewiesen haben, als sie sich von ihren Glaubensgemeinschaften lösten. Sie hatten natürlich unterschiedliche Ansichten, vor allem darüber, wie es weitergehen sollte. Manche versuchten es mehr mit überkonfessionellen christlichen Vorstellungen, viele gingen aber weiter und orientierten sich stärker an der Philosophie der Aufklärung und an Anschauungen der Französischen Revolution, so vor allem auch am Gottesbegriff eines allgemeinen "Höchsten Wesens". Nur relativ wenige fanden den Weg zum Atheismus.

Wie war dies bei Carl Scholl? Carl Scholl war sein ganzes Leben lang ein Suchender. Er war bereit, immer wieder Neues aufzunehmen und seine Erkenntnisse in die Gemeinden zu tragen. Als freireligiöser Prediger und Sprecher hatte er zunächst ein ausgeprägtes pantheistisches Weltbild, in späteren Jahren wandte er sich von jeglichem übernatürlichen Glauben ab. Unter dem Einfluss Ludwig Feuerbachs und auf dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit – besonders der Lehren Charles Darwins und Ernst Haeckels – fand er zu einem atheistischen Weltbild. Scholl verwendete zwar weiter Begriffe wie Religion oder auch Gott, meinte aber damit die Vorgänge in der Natur, ohne eine innewohnende übernatürliche Kraft darin zu suchen. So wurde Carl Scholl aus seinem atheistischen Weltbild heraus eben ein Mitbegründer der Freidenkerbewegung. Horst Groschopp schreibt mit Recht:

Zu den damals populären Freidenkern gehörte auch der freireligiöse Prediger a. D. Carl Scholl (1800 bis nach 1900) in Nürnberg. Er trat als unermüdlicher Bekämpfer der "römischen Anmaßung" hervor. So wandte er sich vehement gegen eine statistische Rubrizierung unter irgendeine Gläubigkeit oder gar Konfession.(17)

Durch seine Betätigung als Sprecher sowie als Herausgeber der Zeitschrift "Es werde Licht" leistete er besonders in Süddeutschland wichtige volksbildnerische Arbeit. Im Rahmen dieser Tätigkeit hat er vor allem in Bayern, besonders in Nürnberg und Umgebung, großen Einfluss ausgeübt, so dass hier die freireligiöse Bewegung relativ rasch und konsequent christlich überkommene Vorstellungen aufgab und zunehmend freigeistige, humanistische und atheistische Ideen übernahm. Auch Scholls Einfluss auf die Arbeiterbewegung vor Ort war groß. Dass in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts – unter stark vorhandenem atheistischen Einfluss – die freireligiösen Gemeinden sich hier umbenannten in "Bund für Geistesfreiheit", ist sicherlich auch auf ein Nachwirken des Einflusses von Carl Scholl zurückzuführen. Scholl war sein Leben lang bemüht, die verschiedenen Richtungen der freireligiösen, freigeistigen und freidenkenden Bewegungen zusammen zu bringen. Darüber hinaus sind seine Verdienste für das Wirken der Gleichberechtigung der Frauen – in einer Zeit, als es noch kaum eine aktive Frauenbewegung gab – nicht hoch genug zu bewerten. Auch sein engagiertes Eintreten gegen aufkommenden Antisemitismus, aber für Humanismus und besonders auch für Frieden – so ersichtlich aus Vorträgen und verschiedenen Schriften, die er hierzu herausgab – zeigen uns einen Menschen, der ein Vorreiter auf vielen Gebieten war.


Anmerkungen:

(1) Georg Gärtner: "Die Nürnberger Arbeiterbewegung 1868 – 1908", Fränkische Verlagsanstalt & Buchdruckerei G.m.b.H., Nürnberg 1908. S. 44.

(2) Siehe Faksimile des Zeitungsausschnittes des "Fürther Demokratisches Wochenblatt" vom 14. September 1872 in: www/ludwig-feuerbach.de/nurnberg.htm

(3) Müller, Dr. Carl-Jochen: Vortrag vom 18.10.1995 zur Übernahme des Schriftgutes der Freireligiösen Gemeinde durch das Stadtarchiv Mannheim (Manuskript). S. 6.

(4) Carl Scholl: "Meine Suspension" in "Es werde Licht", September 1875, &. Jahrgang Nr.12. S.178f.

(5) Carl Scholl: Dgl.

(6) Näheres dazu z. B: Groschopp, Horst: "Dissidenten, Freidenkerei und Kultur in Deutschland", Dietz Verlag, Berlin 1997. S. 82ff.

(7) Eckhart Pilik: "Lexikon freireligiöser Personen", Verlag Peter Guhl, Rohrbach Pfalz, 1997?. S. 148.

(8) Näheres hierzu: Müller, Dr. Carl-Jochen: Vortrag vom 18.10.1995 zur Übernahme des Schriftgutes der Freireligiösen Gemeinde durch das Stadtarchiv Mannheim (Manuskript). S. 10.

(9) Dgl. S. 11.

(10) Carl Scholl: "Die freien religiösen Gemeinden und die Social-Demokratrie", in: "Es werde Licht", 1877, S. 35, Fußnote.

(11) Waltraud Roth (Gotha): "120 Jahre Deutscher Freidenkerbund – die Geschichte der Gründung", Ansprache bei der öffentlichen Mitgliederversammlung des DFV, Landesverband Thüringen, 4. Nov. 2000 (Manuskript).

(12) Näheres zum Verhältnis Feuerbach und die freireligiöse Bewegung in: Volker Müller (Hg.): Ludwig Feuerbach. Religionskritik und Geistesfreiheit", Angelika Lenz Verlag, Neustadt 2004. Beitrag von Prof. Dr. Werner Schuffenhauer "Feuerbach und die freireligiöse Bewegung seiner Zeit" (S. 33-42)

(13) Volker Müller (Hg.): Ludwig Feuerbach. Religionskritik und Geistesfreiheit", Angelika Lenz Verlag, Neustadt 2004. Aus dem Beitrag Dr. Eckart Pilik: "Bewusstsein des Unendlichen – Feuerbachs Religionskritik und die Freie Religion", S. 91.

(14) Carl Scholl: "Es werde Licht", Jahrgang 1872, S. 187ff.

(15) Carl Scholl: "Ludwig Feuerbach. Vortrag an seinem Grabe", 2. Auflage, Nürnberg 1872. S. 2.

(16) Nachdruck der Rede in: Dr. phil. Franz Bohl: "Hundert Jahre Kampf um Ludwig Feuerbach", Bund für Geistesfreiheit Nürnberg, 1955. S. 20.

(17) Groschopp, Horst: "Dissidenten – Freidenkerei und Kultur in Deutschland", Dietz Verlag, Berlin 1997. S. 112, Fußnote.

Der Autor:
Helmut Steuerwald
Stolzingstraße 13
90469 Nürnberg
Tel.: 0911/487630
E-mail: helmut.steuerwald@nefkom.net

 

Wesentlich gekürzt ist der Text als Faltblatt bei der "Freireligiösen Gemeinde Berlin e. V." (Pappelallee 15, 10437 Berlin-Prenzlauer Berg) erhältlich.


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