Feuerbach – Wagner
und das "Kunstwerk der Zukunft"


Feuerbach, Wagner und das "Kunstwerk der Zukunft"

Helmut Walther (Nürnberg)

Vortrag zum Wagner-Seminar
der Gesellschaft für kritische Philosophie
in Fürth vom 28.05.2001

Das Verhältnis von Ludwig Feuerbach (1804-1872) und Richard Wagner (1813-1883) wurde grundsätzlich schon in meinem Artikel "Biedermann und Visionäre" geschildert(1), nachzulesen in A&K 1/1999; heute möchte ich die Einwirkung Feuerbachs auf Wagner etwas konkreter unter dem Begriff "Zukunft" vorstellen. Feuerbach überschrieb seine 1843 erschienene Schrift "Grundsätze der Philosophie der Zukunft" – und es ist nicht unwahrscheinlich, daß Wagner sich dadurch zu dem Titel seiner Schrift "Das Kunstwerk der Zukunft" anregen ließ. Daß diese unter Feuerbachs Einfluß steht, bestätigt Wagner selbst, indem er sie diesem widmet. Neben dieser sachlichen Pointierung möchte ich mich zeitlich auf die für beide sehr bedeutsamen Jahre 1848-1850 beschränken: die Revolution in Deutschland greift tief in beider Schicksal ein, und wird bis zum Jahr 1850, in dem sie auf Grund der Widmung Briefe wechseln, beider Lebensbahn entscheidend verändert haben.


L. Feuerbach im Mannesalter

Feuerbachs Vita bis 1848 sei zunächst nur kurz angerissen: nach seinem Philosophie-Studium bei Hegel in Berlin 1824-1826 promoviert und habilitiert er sich 1828 in Erlangen als Dozent; wegen seiner anonymen Erstveröffentlichung "Gedanken über Tod und Unsterblichkeit" (erschienen 1830) wird seine Professur abgelehnt, obwohl er bedeutende philosophiegeschichtliche Werke veröffentlicht. So heiratet er 1837 Bertha Löw und zieht sich nach Bruckberg bei Ansbach zurück. Von dort aus erscheint 1841 sein Hauptwerk "Das Wesen des Christentums", das ihn in ganz Deutschland berühmt macht. 1843 schließich veröffentlicht er seine "Grundsätze der Philosophie der Zukunft", die einerseits mit der Hegelschen Philosophie eines "absoluten Geistes" abrechnen, andererseits den Ausgangspunkt der "neuen Philosophie" geben wollen(2); im Folgenden daraus einige zentrale Aussagen, die den Kern des Feuerbachschen Denkens ausmachen und die wir mehr oder weniger direkt bei Wagner wiederfinden werden:


Erstausgabe der Philosophie der Zukunft

Die neue Philosophie stützt sich auf die Wahrheit der Liebe, die Wahrheit der Empfindung. In der Liebe, in der Empfindung überhaupt gesteht jeder Mensch die Wahrheit der neuen Philosophie ein. Die neue Philosophie ist in Beziehung auf ihre Basis selbst nichts andres als das zum Bewußtsein erhobene Wesen der Empfindung – sie bejaht nur in und mit der Vernunft, was jeder Mensch – der wirkliche Mensch – im Herzen bekennt. Sie ist das zu Verstand gebrachte Herz. Das Herz will keine abstrakten, keine metaphysischen oder theologischen – es will wirkliche, es will sinnliche Gegenstände und Wesen(3).

Wahr und göttlich ist nur, was keines Beweises bedarf, was unmittelbar durch sich selbst gewiß ist, unmittelbar für sich spricht und einnimmt, unmittelbar die Affirmation, daß es ist, nach sich zieht – das schlechthin Entschiedene, schlechthin Unzweifelhafte, das Sonnenklare. Aber sonnenklar ist nur das Sinnliche; nur wo die Sinnlichkeit anfängt, hört aller Zweifel und Streit auf. Das Geheimnis des unmittelbaren Wissens ist die Sinnlichkeit.(4)

Nur durch Mitteilung, nur aus der Konversation des Menschen mit dem Menschen entspringen die Ideen. Nicht allein, nur selbander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt. Zwei Menschen gehören zur Erzeugung des Menschen – des geistigen sogut wie des physischen: Die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen ist das erste Prinzip und Kriterium der Wahrheit und Allgemeinheit.(5)

Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit und Totalität, der Gegenstand der neuen Philosophie, ist auch nur einem wirklichen und ganzen Wesen Gegenstand. Die neue Philosophie hat daher zu ihrem Erkenntnisprinzip, zu ihrem Subjekt nicht das Ich, nicht den absoluten, d. i. abstrakten, Geist, kurz, nicht die Vernunft in abstracto, sondern das wirkliche und ganze Wesen des Menschen. Die Realität, das Subjekt der Vernunft ist nur der Mensch. Der Mensch denkt, nicht das Ich, nicht die Vernunft. ... Wenn daher die alte Philosophie sagte: Nur das Vernünftige ist das Wahre und Wirkliche, so sagt dagegen die neue Philosophie: Nur das Menschliche ist das Wahre und Wirkliche; denn das Menschliche nur ist das Vernünftige, der Mensch das Maß der Vernunft.(6)

Hieraus ergibt sich folgender kategorischer Imperativ: Wolle nicht Philosoph sein im Unterschied vom Menschen, sei nichts weiter als ein denkender Mensch; denke nicht als Denker, d. h. in einer aus der Totalität des wirklichen Menschenwesens herausgerissenen und für sich isolierten Fakultät; denke als lebendiges, wirkliches Wesen, ...denke in der Existenz, in der Welt als ein Mitglied derselben, nicht im Vakuum der Abstraktion, als eine vereinzelte Monade, als ein absoluter Monarch, als ein teilnahmloser, außerweltlicher Gott – dann kannst du darauf rechnen, daß deine Gedanken Einheiten sind von Sein und Denken.(7)

Die alte Philosophie hat eine doppelte Wahrheit – die Wahrheit für sich selbst, die sich nicht um den Menschen bekümmerte – die Philosophie –, und die Wahrheit für den Menschen – die Religion. Die neue Philosophie dagegen, als die Philosophie des Menschen, ist auch wesentlich die Philosophie für den Menschen – sie hat, unbeschadet der Würde und Selbständigkeit der Theorie, ja, im innigsten Einklang mit derselben, wesentlich eine praktische, und zwar im höchsten Sinne praktische, Tendenz; sie tritt an die Stelle der Religion, sie hat das Wesen der Religion in sich, sie ist in Wahrheit selbst Religion.(8)

Einer der führenden Feuerbachkenner unserer Zeit, Hans-Martin Sass, faßt dessen neuen Ansatz wie folgt zusammen: "Die Philosophie der Zukunft ist vielmehr eine kritische Theorie, die insgesamt die traditionelle Philosophie – sei es nun als Idealismus oder Empirismus – überwindet in einer neuen humanistischen Philosophie, deren Grundprinzipien die der Sensualität und Individualität sind. ... Der natürlichen Gleichheit des rationalen Vermögens steht die natürliche Ungleichheit der Individualität ... im Du entgegen."(9)

Feuerbach selbst spricht seine Einschätzung der Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Philosophie – wie man modern sagen würde – und deren Wirkungsmöglichkeit auf die eigene Gegenwart im Juni 1843 in seinem Brief an Ruge aus:

"Wir kommen in Deutschland sobald auf keinen grünen Zweig. Es ist alles in Grund und Boden hinein verdorben, das eine auf diese, das andre auf jene Weise. Neue Menschen brauchten wir. Aber sie kommen diesmal nicht wie bei der Völkerwanderung aus den Sümpfen und Wäldern, aus unsern Lenden müssen wir sie erzeugen. Und dem neuen Geschlecht muß die neue Welt zugeführt werden in Gedanken und in Gedicht. Alles ist von Grund aus zu erschöpfen. Eine Riesenarbeit vieler vereinten Kräfte. Kein Faden soll am alten Regimente ganz bleiben. "Neue Liebe, neues Leben", sagt Goethe; neue Lehre, neues Leben heißt es bei uns. ... Was ist Theorie, was Praxis? Worin besteht ihr Unterschied? Theoretisch ist, was nur noch in meinem Kopfe steckt, praktisch, was in vielen Köpfen spukt. Was viele Köpfe eint, macht Masse, macht sich breit und damit Platz in der Welt. Läßt sich ein neues Organ für das neue Prinzip schaffen, so ist das eine Praxis, die nicht versäumt werden darf."(10)

Noch ist es jedoch nicht soweit – bevor diesem revolutionär Gesonnenen die Revolution in Deutschland neuen Schwung verleiht, muß er erst private Schicksalsschläge hinnehmen: 1844 stirbt sein zweites Töchterlein dreijährig und er erhält so die bittere Gelegenheit, seine in den "Gedanken über Tod und Unsterblichkeit" aufgestellten Überlegungen in der eigenen Existenz zu bewähren. Und die 1841 begonnene Liebschaft mit der Tochter seines Freundes, Johanna Kapp, sie scheitert, nachdem sich Feuerbach mit seiner Frau ausspricht und zu ihr 1846 zurückkehrt – ohne doch die Geborgenheit des ehelichen Zusammenseins zurückzugewinnen.

Professor Dr. W. Schuffenhauer schildert die Zeitsituation im Vorwort seiner Ausgabe der Gesammelten Werke wie folgt:

"Feuerbachs neue Philosophie erlangte zu dieser Zeit eine beachtliche Wirkung. Deutschland ging mit der bürgerlichen Revolution schwanger. Wie am Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich, so gewann auch hier die Kritik der Verflechtung von Konservatismus und Religion, des gegen den gesellschaftlichen Fortschritt gerichteten Bündnisses von Thron und Altar und seiner geistigen Grundlagen politische Bedeutung und eine wirkungsvolle Religionskritik die Funktion indirekt-politischer Kritik. Die Zentrierung der philosophischen Fragestellung auf den Menschen mittels des anthropologisch-materialistischen Prinzips brachte Interessen der demokratischen Opposition zum Ausdruck. Die Hervorhebung der gemeinschaftlichen Natur des Menschen, der Gleichberechtigung aller Menschen, wirkte als humanistische Alternative zur herrschenden Ideologie. Die Betonung des Illusionären einer Selbstverwirklichung innerhalb religiösen Bezugs und des Widerspruchs religiösen Bewußtseins mit den erkennbaren Wandlungen im Leben der Gesellschaft, andererseits die Hervorhebung der geschichtsgestaltenden Macht des Bedürfnisses und der gemeinschaftlichen Schöpferkraft der Menschen, die alle scheinbaren Schranken niederreißt, die Erklärung der Rückkehr des Menschen zu sich selbst als Ziel und "Wendepunkt" der Weltgeschichte, motivierten die Einheit und Aktion der demokratischen Kräfte."(11)

In diese persönlich wie politisch unbefriedigende Situation platzte im Frühjahr 1848 die Nachricht von der Revolution in Frankreich: "Die französische Revolution hat auch in mir eine Revolution hervorgebracht. So bald ich kann, sobald ich hier alles in’s Reine gebracht, gehe ich nach Paris, ohne Weib, ohne Kind, ohne Bücher, ohne – –."(12)


Das Parlament tagt in der Frankfurter Paulskirche.

Doch Feuerbach kam nur bis nach Frankfurt, wo er zunächst an den Sitzungen des Paulskirchenparlaments teilnahm. Entsprechend seiner bereits im Rugebrief gezeigten Auffassung verhielt er sich in politicis zurückhaltend-skeptisch – "erst müssen sich die Köpfe ändern" – und bevorzugte als Übergangsform eine konstitutionelle Monarchie. Denn er war ein Gegner aller Gewalt; er hieß sich zwar 1848 einen "Kommunisten", erwiderte aber Gustav Struve, dem Führer des badischen Aufstands von 1848, auf dessen Forderung, auf der Seite des Volks mit Waffen zu kämpfen:

"Ich gehe jetzt nach Heidelberg und halte dort den Studenten Vorlesungen über das Wesen der Religion, und wenn dann von dem Samen, den ich dort ausstreue, in hundert Jahren einige Körnchen aufgehen, so habe ich zum Besten der Menschheit mehr angerichtet, als Sie mit Ihrem Dreinschlagen."

Und so versucht er 1849 in seinen Heidelberger Vorlesungen zum "Wesen der Religion" auf die Verbreitung seiner "Philosophie der Zukunft" hinzuwirken, indem er zuallerst den Menschen vom Himmel auf die Erde holen will, damit er sich weniger eingebildeten als den wahren Problemen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens zuwende; dort führt er unter anderem aus:

Die Natur hat keinen Anfang und kein Ende. Alles in ihr steht in Wechselwirkung; alles ist relativ, alles zugleich Wirkung und Ursache; alles in ihr ist allseitig und gegenseitig; sie läuft in keine monarchische Spitze aus; sie ist eine Republik. Wer nur an das fürstliche Regiment gewöhnt ist, der kann sich freilich keinen Staat, kein gemeinschaftliches Zusammenleben der Menschen ohne Fürsten denken; ebenso der keine Natur ohne Gott, der einmal von Kindesbeinen an diese Vorstellung gewöhnt ist. Aber die Natur ist nicht weniger denkbar ohne Gott, ohne ein außer- und übernatürliches Wesen als der Staat oder das Volk ohne ein außer und über dem Volke stehendes fürstliches Idol. Ja, wie die Republik die geschichtliche Aufgabe, das praktische Ziel der Menschheit, so ist das theoretische Ziel des Menschen, die Verfassung der Natur als eine republikanische zu erkennen, das Regiment der Natur nicht außer sie zu verlegen, sondern in ihrem eigenen Wesen begründet zu finden.(13)

Im rückblickenden Vorwort der Buchveröffentlichung dieser Vorlesungen sieht er die Zeit dafür noch nicht reif(14):

Daß diese Vorlesungen erst jetzt erscheinen, wird nicht befremden. Was ist jetzt zeitgemäßer als eine Erinnerung an das Jahr 1848? Bei dieser Erinnerung muß ich jedoch zugleich bemerken, daß diese Vorlesungen meine einzigen öffentlichen Tätigkeitsäußerungen in der sogenannten Revolutionszeit gewesen sind. An allen – sowohl politischen als unpolitischen Bewegungen und Verhandlungen jener Zeit, welchen ich beiwohnte, beteiligte ich mich nur als kritischer Zuschauer und Zuhörer, und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich an erfolg- und folglich kopflosen Unternehmungen keinen tätigen Anteil nehmen kann, ich aber schon am Anfang aller jener Bewegungen und Verhandlungen ihren Ausgang voraussah oder doch vorausempfand. Ein bekannter Franzose hat unlängst die Frage an mich gestellt, warum denn ich mich nicht an der revolutionären Bewegung von 1848 beteiligt hätte. Ich antwortete: ... wenn wieder eine Revolution ausbricht und ich an ihr tätigen Anteil nehme, dann können Sie zum Entsetzen Ihrer gottesgläubigen Seele gewiß sein, daß diese Revolution eine siegreiche, daß der jüngste Tag der Monarchie und Hierarchie gekommen ist. Leider werde ich diese Revolution nicht erleben.(15)

Am 8. März 1850 schrieb er an seinen Freund Friedrich Kapp über seine Situation:

"Du würdest mir daher eine große Freundschaft erweisen, wenn Du Dich auch meinetwegen in Amerika umsähest ... In Ermangelung einer Aussicht ins Jenseits, kann ich im Diesseits, im Jammertal der deutschen, ja europäischen Politik überhaupt, dadurch mich bei Leben und Verstand erhalten, daß ich die Gegenwart zu einem Gegenstand aristophanischen Gelächters, die Zukunft unter der Gestalt Amerikas zu einem Gegenstand meiner Phantasie und Hoffnung, die Vergangenheit der Menschheit, namentlich in Deutschland, Rom und Athen zum Gegenstand des Studiums mache ... Nur in unausgesetzter geistiger Tätigkeit, kann ich es in dem Irren- und Schurkenhaus der europäischen Welt aushalten."

Aus diesen verschiedenen in Feuerbachs Leben sichtbaren abgebrochenen Aufschwüngen läßt sich abnehmen, daß er im wirklichen Handeln seinem Naturell nach wohl eher ein Zauderer(16) wahr – nehmen wir nur die nicht ausgeführten Pläne für Paris und Amerika, den Abbruch seines Verhältnis zu Johanna Kapp und die Rückkehr zur Ehefrau, und vor allem die angesprochene Resignation gegenüber dem Erfolg der Revolution, so sollte dies doch deutlich sein.

Ganz anders Richard Wagner: Er läßt sich von den bedeutsamen Strömungen anstecken und begeistern, nutzt sie für seine eigenen Ziele und läßt sich mit vollem Einsatz zur Tat auch in der Realität hinreißen: Für sein Werk (und seine Person ...) stürzt er sich ebenso in Schulden wie in die Revolution, bedenkenlos macht er der verheirateten Cosima von Bülow ein Kind, und er schreitet zur Gründung eines zunächst völlig aussichtslosen Festspielunternehmens und setzt es gegen alle Widerstände durch, ein Unternehmen, das bis heute Bestand hat.

Rein äußerlich betrachtet konnte sich das Jahr 1850, das Erscheinungsjahr des "Wesens der Religion" wie des "Kunstwerks der Zukunft" von Richard Wagner und dessen Widmung an Feuerbach, nicht gegensätzlicher ausnehmen: Feuerbach schien mit seinen Heidelberger Vorlesungen und deren Veröffentlichung, seinen vielfachen Kontakten zu den führenden Geistern Deutschlands und seinem öffentlichen Ansehen auf dem Höhepunkt seiner Wirksamkeit; Wagner hingegen hatte als steckbrieflich gesuchter und mittelloser Revolutionär einen tiefen Absturz hinter sich.

Doch der Schein trügt: für Feuerbach geht es seither nurmehr bergab, sein Ansehen verblaßt, die Familie geht bankrott und verarmt, zu Lebzeiten erklärt man ihn für tot. Ganz anders Wagner: er setzt mit dieser seiner Schrift "Kunstwerk der Zukunft", das auf seinen "Ring des Nibelungen" und dessen geplante Aufführungspraxis vorausweist, zu einem Aufstieg an, der schließlich Könige und Kaiser nach Bayreuth locken wird.

Doch so weit sind wir noch nicht; lassen Sie uns zunächst sehen, wie Wagner sich in dieses aussichtslos scheinende Züricher Asyl manövrierte, von dem aus er, obwohl gänzlich aus der Bahn geworfen und tief verzweifelt, paradoxer Weise so hochfliegende Pläne skizzierte.


Der junge Wagner

Nach zunächst autodidaktischen Musikstudien hat Wagner bereits mit 16 Jahren zu komponieren begonnen; ein Jahr später begeistert er sich 1830 für die Juli-Revolution in Paris und nimmt an den Unruhen in Leipzig teil. Seit 1832 entstehen erste Opernskizzen (Die Hochzeit, Die Feen, Das Liebesverbot) und er erreicht die erste Aufführung seiner Symphonie in C-Dur im Leipziger Gewandhaus. 1834, im Alter von 21 Jahren, wird er Musikdirektor in Lauchstädt, danach in Magdeburg, wo er 1836 mit der Schauspielerin Minna Planer die Ehe eingeht. 1837 bis 1839 ist er Theaterdirektor zuerst in Königsberg, dann in Riga. 1841 wird als erste Oper Wagners der Rienzi auf Empfehlung Meyerbeers uraufgeführt und der Fliegende Holländer komponiert. 1843 erlangt er als vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere den Posten des Kgl. Sächsischen Hofkapellmeisters in Dresden, er arbeitet am Tannhäuser, seine beiden ersten Opern werden, teils unter seiner Leitung, in Berlin und Hamburg aufgeführt. 1846 erweckt er Beethovens Neunte Symphonie zu neuem Leben und nimmt die Arbeit an den Meistersingern, Lohengrin und 1848 an Siegfrieds Tod auf.

Wagners angesehene Stellung beim sächsischen Hofe ändert nichts daran, daß er sich in dieser Abhängigkeit als "Lakai" empfindet – ist er doch im Hinblick auf Theater- und Konzertaufführungen sowie zu erbringende Gelegenheitskompositionen weisungsgebunden und hat zudem die Orchesteruniform zu tragen. Ihm schwebt ein anderer Lebenszuschnitt vor, und so setzt er seine lebenslange "Schuldenkarriere" sehr zum Leidwesen seiner Frau Minna in Dresden fort. Etwa verpfändet er seine Partituren an Gläubiger, oft mehrfach, ohne doch dadurch je seine Schulden begleichen zu können, und es verwundert daher nicht, daß er einige Male in seinem Leben in letzter Minute die Flucht vor drohender Festsetzung ergreifen mußte!(17)

Für Wagner kam also die Revolution in Dresden genau im richtigen Zeitpunkt – er konnte hoffen, alle seine Probleme mit einem Schlag zu lösen, und so nimmt es nicht Wunder, daß er, der bereits 1848 durch aufrührerische Reden bei Hofe aufgefallen war, sich den revolutionären Kreisen um Röckel und Bakunin anschloß: "So schaffte sich Richard seine Gläubiger mit Hilfe der Philosophie vom Halse", meint nicht zu Unrecht einer seiner Biographen.(18) Bezeichnender Weise entstand in dieser Zeit denn auch der Entwurf zum "Jesus von Nazareth", in dem unter anderem der Schutz des Privatbesitzes denunziert wird, da er die Liebe ersticke. Bakunin selbst, der auch mit Feuerbach bekannt war, faszinierte Wagner in seinem entschlossenen Nihilismus, aus dem wie Phönix aus der Asche eine neue Gesellschaft hervorsteigen sollte – wie es Wagner dann auch zunächst im "Ring des Nibelungen" künstlerisch auszuführen gedachte. Doch im Moment meinte er ganz reell auf die Vernichtung des Bestehenden hinwirken zu sollen, um "das Volk" und dessen "angeborenen Tugenden und edlen Instinkte", an die er damals glaubte, zu befreien und durch sein "Kunstwerk der Zukunft" auf sein angestammtes eigentliches Niveau zu führen – und dies natürlich gegen die schmarotzenden Verführer und Knechter des Volkes: die Adeligen und die Juden.

Bereits im Februar 1849 hatte er einen Artikel veröffentlicht(19), in dem er ganz im Sinne Feuerbachs ausführt,

"daß nur in der Vereinigung die Menschen jene Kraft finden, welche sie ihrer Bestimmung entgegen zu führen vermag; nur allein da aber, wo die Kraft dazu liegt, kann auch die Bestimmung sein, und darum sagen wir jetzt richtiger:
Es ist die Bestimmung der Menschheit, durch die immer höhere Vervollkommnung ihrer geistigen, sittlichen und körperlichen Kräfte zu immer höherem, reinerem Glücke zu gelangen.
Der einzelne Mensch ist nur der Theil des Ganzen; Vereinzelt für sich ist er Nichts, nur allein als Theil des Ganzen findet er seine Bestimmung, sein Recht, sein Glück.
Die Vereinigung der Menschen nennen wir: die Gesellschaft.
Wir sehen, daß die Gesellschaft nicht etwas Zufälliges, Willkürliches, Freiwilliges ist, wir sehen, daß ohne die Gesellschaft der Mensch kein Mensch mehr ist, sich nicht mehr von dem Thiere unterscheiden würde; wir sehen somit, daß die Gesellschaft die nothwendige Bedingung unseres Menschenthums ist. Die Menschen sind daher nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, an die Gesellschaft die Anforderung zu stellen: sie durch Vervollkommnung ihrer geistigen, sittlichen und körperlichen Fähigkeiten zu immer höherem, reinerem Glücke zu führen. ...
Unsere bestehende Gesellschaft ist ohne Erkenntniss, ohne Bewusstsein ihrer Aufgabe, sie erfüllt sie nicht.
Der Kampf des Menschen gegen die bestehende Gesellschaft hat begonnen.
Dieser Kampf, er ist der heiligste, der erhabenste, der je gekämpft wurde, denn er ist der Kampf des Bewusstseins gegen den Zufall, des Geistes gegen die Geistlosigkeit, der Sittlichkeit gegen das Böse, der Kraft gegen die Schwäche; Es ist der Kampf um unsere Bestimmung, unserer Recht, unser Glück."

Und unter dem Eindruck Bakunins formuliert er kurz darauf(20):


Wagners "Revolutions"-Artikel

"Der eigne Wille sei der Herr des Menschen, die eigne Lust sein einzig Gesetz, die eigne Kraft sein ganzes Eigenthum, denn das Heilige ist allein der freie Mensch, und nichts Höheres ist denn Er. Vernichtet sei der Wahn, der Einem Gewalt giebt über Millionen, der Millionen unterthan macht dem Willen eines Einzigen, der Wahn, der da lehrt: der Eine habe die Kraft die Andern alle zu beglücken. Das Gleiche darf nicht herrschen über das Gleiche, das Gleiche hat nicht höhere Kraft denn das Gleiche, und da Ihr Alle gleich, so will ich zerstören jegliche Herrschaft des Einen über den Andern. ...

Näher und näher wälzt sich der Sturm, auf seinen Flügeln die Revolution; weit öffnen sich die wiedererweckten Herzen der zum Leben Erwachten, und siegreich zieht ein die Revolution in ihr Gehirn, in ihr Gebein, in ihr Fleisch, und erfüllt sie ganz und gar. In göttlicher Verzückung springen sie auf von der Erde, nicht die Armen, die Hungernden, die vom Elende Gebeugten sind sie mehr, stolz erhebt sich ihre Gestalt, Begeisterung strahlt von ihrem vereitelten Antlitz, ein leuchtender Glanz entströmt ihrem Auge und mit dem himmelerschütternden Rufe: ich bin ein Mensch! stürzen sich die Millionen, die lebendige Revolution, der Mensch gewordene Gott, hinab in die Thäler und Ebenen, und verkünden der ganzen Welt das neue Evangelium des Glückes!"


Die Revolution in Dresden 1849

Angesichts dieser sich hier nur zu deutlich aussprechenden revolutionären Stimmung in seinen Landen hatte Ende April König Friedrich von Sachsen, der Dienstherr Wagners, auf preußische Garantien vertrauend den sächsischen Landtag aufgelöst und gegen die daraufhin einsetzenden Unruhen in Dresden die Preußen zu Hilfe gerufen. Diese schlugen den Aufstand in kürzester Zeit nieder und Wagner, der "Kurier der Provisorischen Regierung", fand sich auf der Flucht mit Bakunin zusammen in einem Wagen auf dem Weg nach Chemnitz wieder, wohin er vorsichtshalber Minna samt Hund und Papagei bereits vorausgeschickt hatte. Mit wunderbarem Gespür, daß die Sache nun wohl verloren sei, trennte er sich unterwegs von Bakunin, der im Hinterland die Revolution weiter vorantreiben wollte und schließlich mit anderen verhaftet und zunächst zum Tode verurteilt wurde(21) – Wagner hingegen gelang die Flucht.

Minna berichtete ihm nach Weimar, wo er noch an einer Probe zum Tannhäuser unter Liszts Stabführung teilnahm, von Hausdurchsuchungen in der Dresdner Wohnung, sowie daß man bei dem ebenfalls verhafteten Röckel einen handschriftlichen Brief von ihm gefunden habe; daraufhin wurde am 19. Mai 1849 im Dresdner Anzeiger ein Steckbrief veröffentlicht, mit dem der "Königl. Kapellmeister Richard Wagner ... wegen wesentlicher Theilnahme an der in hiesiger Stadt stattgefundenen aufrührerischen Bewegung" gesucht wurde – Wagner hätte mit Sicherheit das Schicksal der anderen Revolutionäre geteilt. So blieb ihm nichts anderes übrig, als außer Landes zu gehen, über Weimar setzte er sich, Minna in Dresden zurücklassend, mit falschem Paß nach Zürich ab.


Wagners Steckbrief von 1849

Hören wir jetzt Wagner selbst(22), wie er damals zu Feuerbach hinfand und welche Wirkung dessen Lektüre auf ihn ausübte:

"Ich wählte nun, zu meiner Einführung in die Philosophie, Hegels ‚Philosophie der Geschichte‘. Hier imponierte mir vieles, und es schien mir als müßte ich auf diesem Wege in das Innere des Heiligtumes gelangen. Je unverständlicher viele im spekulativen Sinne resümierenden Phrasen des ungeheuer berühmten, als Schlußstein aller philosophischen Erkenntnis mir gepriesenen gewaltigen Geistes, erschienen, desto mehr fühlte ich mich angeregt, der Sache von dem ‚Absolutum‘, und was damit zusammenhing, auf den Grund zu gehen. Die Revolution kam dazwischen; die praktischen Tendenzen für eine neue Gestaltung der Gesellschaft führten mich ab, und wie ich bereits erwähnt, war es ein ehemaliger Theolog, damals deutsch-katholischer Prediger und politischer Agitator mit einem Kalabreser-Hute, namens Metzdorf, welcher mich zuerst auf den ‚rechten und einzigen Philosophen der Neuzeit‘, Ludwig Feuerbach, verwies. ... Die Unumwundenheit, zu welcher sich Feuerbach in den reiferen Teilen seines Buches [Gedanken zu Tod und Unsterblichkeit – d. Verf.] endlich über diese tief interessierenden Fragen(23) ermutigt, gefiel mir ebenso ihrer tragischen, wie sozialradikalen Tendenz wegen, sehr. Es schien mir kühn und lohnend, die einzige wahre Unsterblichkeit nur der erhabenen Tat, oder dem geistbeseelten Kunstwerk zugeteilt zu wissen. Etwas schwerer gelang es bereits, mich für das ‚Wesen des Christentums‘ von demselben Verfasser bei dauerndem Interesse zu erhalten, da ich die Breite und unbehilfliche Ausdehnung der Darstellung des einfachen Grundgedankens, die Religion vom rein subjektiven psychologischen Standpunkte aus zu erklären, unter der unwillkürlichen Wirkung der Lektüre nicht unempfunden lassen konnte. Jedoch galt mir Feuerbach nun einmal als Repräsentant der rücksichtslos radikalen Befreiung des Individuums vom Drucke hemmender, dem Autoritätsglauben angehörender Vorstellungen, und dem Eingeweihten wird es recht wohl erklärlich dünken, welches Gefühl mich bestimmte, als ich meine Schrift ‚Das Kunstwerk der Zukunft‘ mit einer Dedikation und einem Vorwort an Feuerbach einleitete. ... Was mich ... wirklich bestimmt hatte, Feuerbach eine für mich wichtige Bedeutung beizulegen, war dessen Schluß, mit welchem er von seinem ursprünglichen Meister Hegel abfiel: daß nämlich die beste Philosophie sei, gar keine Philosophie zu haben, womit mir das bisher abschreckende Studium derselben ungemein erleichtert wurde; sowie zweitens, daß nur das wirklich sei, was die Sinne wahrnehmen. Daß er in die ästhetische Wahrnehmung unsrer Sinnenwelt das, was wir Geist nennen, setzte, dies war es, was mich, neben der Erklärung von der Nichtigkeit der Philosophie, für meine Konzeption eines allumfassenden, für die einfachste, rein menschliche Empfindung verständlichen Kunstwerks, dem vollendeten Drama, im Momente seiner, jede künstlerische Intention verwirklichenden Darstellung als Kunstwerk der Zukunft, so ergiebig unterstütze".(24)

Man sieht, bei Wagner mischen sich verschiedene Motive, die ihn einen Umsturz der Verhältnisse herbeiwünschen lassen: persönlicher Egoismus, den Schulden und der "Lakaienstellung" zu entkommen; künstlerischer Egoismus, seiner umstürzenden Auffassung des Gesamtkunstwerks zum Durchbruch zu verhelfen; humanistisch-ethischer Idealismus, der einen Umsturz der beengten und verdrehten menschlichen Gesellschaft herbeiführen will. Das Mittel dazu aber ist ihm das "Gesamtkunstwerk", das in der Zusammenführung der zersplitterten Einzelkünste "das Volk" als die Gesamtheit der Individuen auf das dem Menschen "Natürliche", "Naturnotwendige" hinführe in dessen idealer Vermittelung durch die, durch seine Kunst. Denn:

"Kunst ist die höchste gemeinschaftliche Lebensäußerung des Menschen." Und nicht eher sei "Hoffnung, Mut und zuversichtlicher Glaube an die Zukunft" zu fassen, als bis sich die Uberzeugung durchsetze, daß die Menschen gerade nur "so zu sein brauchen, wie sie ihrer Natur nach sein können und deshalb sein wollen und – werden. Nicht Engel, sondern eben Menschen!", weshalb die Grundbedingungen der Kunst, (das ihr notwendige "Klima" nichts anderes sein könne, als "Das wirkliche – nicht eingebildete – Wesen der menschlichen Gattung." – Sätze, die sich folgerichtig unmittelbar aus Feuerbachs "Wesen des Christentums", aus seinen philosophiekritischen Programmschriften, wie "Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie" und "Grundsätze der Philosophie der Zukunft" (von 1842/43) – letztere Schrift hat möglicherweise Wagner bewogen, der "Philosophie der Zukunft" das "Kunstwerk der Zukunft" an die Seite zu stellen –, ableiten lassen. (W. Schuffenhauer)(25)

Wagner hat in Zürich kein Geld, aber er findet wie fast stets reiche Gönner, und er hat, da ohne Anstellung, viel Zeit; die nutzt er zu ausgiebiger schriftstellerischer Tätigkeit, die zugleich der Eigenpropaganda dienen soll, um seine eigenen Kunstvorstellungen durchzusetzen. Neben der gleich vorzustellenden Schrift entstehen in schneller Folge:

– Die Kunst und die Revolution (1849)
– Das Judentum in der Musik (1850)
– Kunst und Klima (1850)
– Oper und Drama (1851)
– Mitteilung an meine Freunde (1851)(26)

Wagners vorhergegangene "romantische" Werke, vom Rienzi bis zum Tannhäuser, warteten zwar insbesondere in ihrer Durchkomposition bereits mit Neuerungen auf, wenn man an die vorherigen "Nummernopern" von Mozart, Beethoven, Rossini und Weber denkt; doch der Erfolg dieser ersten Werke zeigt, daß er sich von den Hörgewohnheiten der Zeit noch nicht völlig entfernt hatte, es gibt noch einprägsame Melodien, Arien und Chöre. Doch nun denkt er parallel zur politischen Entwicklung an einen radikalen Bruch mit den hergebrachten Formen – und diesen bereitet er theoretisch mit seiner Schrift "Kunstwerk der Zukunft" vor.

Die Schrift(27) umfaßt in der modernen Taschenbuchausgabe ca. 180 Seiten und ist großenteils gut lesbar; ihre Gedankengänge – wenn auch des öfteren einseitig und auf das von Wagner angepeilte Ziel des "Gesamtkunstwerks" hin zugespitzt – sind teilweise originell und jedenfalls überlegenswert, insbesondere in ihrer Kulturkritik.(28)

Am meisten verdankt Wagner Feuerbach naturgemäß im ersten Hauptteil seiner Schrift, in dem er das "Verhältnis von Mensch und Kunst im allgemeinen" zu klären sucht und ganz feuerbachisch zu einer naturalistischen Ableitung und Auffassung desselben gelangt:

"Der Mensch wird nicht eher das sein, was er sein kann und sein soll, als bis sein Leben der treue Spiegel der Natur, die bewußtlose Befolgung der einzig wirklichen Notwendigkeit, der inneren Naturnotwendigkeit ist, nicht die Unterordnung unter eine äußere, eingebildete und der Einbildung nur nachgebildete, daher nicht notwendige, sondern willkürliche Macht. Dann wird aber der Mensch auch wirklich erst Mensch sein, während er bis jetzt immer nur noch einem der Religion, der Nationalität oder dem Staate entnommenen Prädikate nach existiert. ...

Ebenso wird nun auch die Kunst nicht eher das sein, was sie sein kann und sein soll, als bis sie das treue, bewußtseinverkündende Abbild des wirklichen Menschen und des wahrhaften, naturnotwendigen Lebens der Menschen ist oder sein kann, bis sie also nicht mehr von den Irrtümern, Verkehrtheiten und unnatürlichen Entstellungen unseres modernen Lebens die Bedingungen ihres Daseins erborgen muß.

Der wirkliche Mensch wird daher nicht eher vorhanden sein, als bis die wahre menschliche Natur, nicht willkürliche Staatsgesetze sein Leben gestalten und ordnen; die wirkliche Kunst aber wird nicht eher leben, als bis ihre Gestaltungen nur den Gesetzen der Natur, nicht der despotischen Laune der Mode unterworfen zu sein brauchen. Denn wie der Mensch nur frei wird, wenn er sich seines Zusammenhanges mit der Natur freudig bewußt wird, so wird die Kunst nur frei, wenn sie sich ihres Zusammenhanges mit dem Leben nicht mehr zu schämen hat." (S. 10f.)

Auf diesem Wege ist die Wissenschaft zwar unverzichtbar und von besonderer Wichtigkeit, aber:

"Das Wesen der Wissenschaft ist ... endlich, das des Lebens unendlich, wie der Irrtum endlich, die Wahrheit aber unendlich ist. Wahr und lebendig ist aber nur, was sinnlich ist und den Bedingungen der Sinnlichkeit gehorcht. Die höchste Steigerung des Irrtumes ist der Hochmut der Wissenschaft in der Verleugnung und Verachtung der Sinnlichkeit; ihr höchster Sieg dagegen der, von ihr selbst herbeigeführte, Untergang dieses Hochmutes in der Anerkennung der Sinnlichkeit. ... Das wirkliche Kunstwerk, d. h. das unmittelbar sinnlich dargestellte, in dem Momente seiner leiblichsten Erscheinung, ist daher auch erst die Erlösung des Künstlers, die Vertilgung der letzten Spuren der schaffenden Willkür, die unzweifelhafte Bestimmtheit des bis dahin nur Vorgestellten, die Befreiung des Gedankens in der Sinnlichkeit, die Befriedigung des Lebensbedürfnisses im Leben. Das Kunstwerk in diesem Sinne, als unmittelbarer Lebensakt, ist somit die vollständige Versöhnung der Wissenschaft mit dem Leben ..." (S. 12 f.)

Die Erlösung des Denkens, der Wissenschaft, in das Kunstwerk würde unmöglich sein, wenn das Leben selbst von der wissenschaftlichen Spekulation abhängig gemacht werden könnte. Würde das bewußte, willkürliche Denken das Leben in Wahrheit vollkommen beherrschen, könnte es sich des Lebenstriebes bemächtigen und ihn nach einer andern Absicht, als der Notwendigkeit des absoluten Bedürfnisses verwenden, so wäre das Leben selbst verneint, um in die Wissenschaft aufzugehen; und in der Tat hat die Wissenschaft in ihrem überspanntesten Hochmute von solchem Triumphe geträumt, und unser regierter Staat, unsere moderne Kunst sind die geschlechtslosen, unfruchtbaren Kinder dieser Träume.(S. 13)

Auch heute wieder aktuelle und nachdenkenswerte Sätze, wenn man etwa an die Sloterdijk-Debatte und die "Utopien" mancher Naturwissenschaftler denkt.

Schöpfer und Träger der Kunst ist nach Wagner das "Volk". Der Tuismus Feuerbachs und dessen "Kommunismus" wandelt sich bei Wagner in ein eigenes Verständnis dieses Begriffes; allerdings verbirgt sich bei ihm dahinter eine eher metaphysische und idealische Vorstellung, die mit der Realität wenig gemein hat – dies kaschiert er jedoch damit, daß er die Zeitumstände und fehlerhaften Gesellschaftszustände dafür verantwortlich macht, daß "das Volk" nicht das sei, was es sein sollte. Seine Revolution soll denn das Volk nicht nur befreien, sondern erst wieder in einen "kulturschöpferischen" Zustand versetzen, für welches dann er selbst das "Kunstwerk der Zukunft" schaffen kann:

Wer ist das Volk? – Notwendig müssen wir zunächst in der Beantwortung dieser überaus wichtigen Frage uns einigen. Das Volk war von jeher der Inbegriff aller der Einzelnen, welche ein Gemeinsames ausmachten. (S. 14)

Das Volk ist der Inbegriff aller derjenigen, welche eine gemeinschaftliche Not empfinden. Zu ihm gehören daher alle diejenigen, welche ihre eigene Not als eine gemeinschaftliche erkennen, oder sie in einer gemeinschaftlichen begründet finden; somit alle diejenigen, welche die Stillung ihrer Not nur in der Stillung einer gemeinsamen Not verhoffen dürfen, und demnach ihre gesamte Lebenskraft auf die Stillung ihrer, als gemeinsam erkannten, Not verwenden; – denn nur die Not, welche zum Äußersten treibt, ist die wahre Not; nur diese Not ist aber die Kraft des wahren Bedürfnisses; nur ein gemeinsames Bedürfnis ist aber das wahre Bedürfnis; nur wer ein wahres Bedürfnis empfindet, hat aber ein Recht auf Befriedigung desselben; nur die Befriedigung eines wahren Bedürfnisses ist Notwendigkeit, und nur das Volk handelt nach Notwendigkeit, daher unwiderstehlich, siegreich und einzig wahr.

Wer gehört nun nicht zum Volke, und wer sind seine Feinde?

Alle diejenigen, die keine Not empfinden, deren Lebenstrieb also in einem Bedürfnisse besteht, das sich nicht bis zur Kraft der Not steigert, somit eingebildet, unwahr, egoistisch, und in einem gemeinsamen Bedürfnisse daher nicht nur nicht enthalten ist, sondern als bloßes Bedürfnis der Erhaltung des Überflusses – als welches ein Bedürfnis ohne Kraft der Not einzig gedacht werden kann – dem gemeinsamen Bedürfnisse geradezu entgegensteht.

Wo keine Not ist, ist kein wahres Bedürfnis; wo kein wahres Bedürfnis, keine notwendige Tätigkeit; wo keine notwendige Tätigkeit ist, da ist aber Willkür; wo Willkür herrscht, da blüht aber jedes Laster, jedes Verbrechen gegen die Natur. Denn nur durch Zurückdrängung, durch Versagung und Verwehrung der Befriedigung des wahren Bedürfnisses, kann das eingebildete, unwahre Bedürfnis sich zu befriedigen suchen.

Die Befriedigung des eingebildeten Bedürfnisses ist aber der Luxus, welcher nur im Gegensatze und auf Kosten der Entbehrung des Notwendigen von der anderen Seite erzeugt und unterhalten werden kann.

Der Luxus ist ebenso herzlos, unmenschlich, unersättlich und egoistisch, als das Bedürfnis, welches ihn hervorruft, das er aber, bei aller Steigerung und Überbietung seines Wesens nie. zu stillen vermag, weil das Bedürfnis eben selbst kein natürliches, deshalb zu befriedigendes ist, und zwar aus dem Grunde, weil es als ein unwahres, auch keinen wahren, wesenhaften Gegensatz hat, in dem es aufgehen, sich also vernichten, befriedigen könnte. Der wirkliche, sinnliche Hunger hat seinen natürlichen Gegensatz, die Sättigung, in welchem er – durch die Speisung – aufgeht: das unnötige Bedürfnis, das Bedürfnis nach Luxus, ist aber schon bereits Luxus, Überfluß selbst; der Irrtum in ihm kann daher nie in die Wahrheit aufgehen: es martert, verzehrt, brennt und peinigt stets ungestillt, läßt Geist, Herz und Sinne vergebens schmachten, verschlingt alle Lust, Heiterkeit und Freude des Lebens; verpraßt um eines einzigen, und dennoch unerreichbaren Augenblickes der Erlabung willen, die Tätigkeit und Lebenskraft Tausender von Notleidenden; lebt vom ungestillten Hunger abermals Tausender von Armen, ohne seinen eigenen Hunger nur einen Augenblick sättigen zu können; er hält eine ganze Welt in eisernen Ketten des Despotismus, ohne nur einen Augenblick die goldenen Ketten jenes Tyrannen brechen zu können, der es sich eben selbst ist.

Und dieser Teufel, dies wahnsinnige Bedürfnis ohne Bedürfnis, dies Bedürfnis des Bedürfnisses, – dies Bedürfnis des Luxus, welches der Luxus selbst ist, – regiert die Welt; er ist die Seele dieser Industrie, die den Menschen tötet, um ihn als Maschine zu verwenden; die Seele unseres Staates, der den

Menschen ehrlos erklärt, um ihn als Untertan wieder zu Gnaden anzunehmen; die Seele unserer deistischen Wissenschaft, welche einem unsinnlichen Gotte, als dem Ausflusse alles geistigen Luxus, den Menschen zur Verzehrung vorwirft; er ist – ach! – die Seele, die Bedingung unserer.Kunst! – (S. 15-17)

Die Not, – welche der Welt das wahre Bedürfnis empfinden lassen wird, das Bedürfnis, welches seiner Natur nach wirklich aber auch zu befriedigen ist.

Die Not wird die Hölle des Luxus endigen; sie wird die zermarterten, bedürfnislosen Geister, die diese Hölle in sich schließt, das einfache, schlichte Bedürfnis des rein menschlich sinnlichen Hungers und Durstes lehren; gemeinschaftlich aber wird sie uns auch hinweisen zu dem nährenden Brote, zu dem klaren süßen Wasser der Natur; gemeinsam werden wir wirklich genießen, gemeinsam wahre Menschen sein. Gemeinsam werden wir aber auch den Bund der heiligen Notwendigkeit schließen, und der Bruderkuß, der diesen Bund besiegelt, wird das gemeinsame Kunstwerk der Zukunft sein.

Effektvoll verbindet hier Wagner seine Kulturkritik an den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen, dem Luxus der Herrschenden und der Fremdbestimmung der Berherrschten sowie der Industrialisierung mit der Utopie eines neuen Menschenbildes, wozu er sich ausdrücklich mit dem "Bruderkuß" auf Schiller und Beethovens 9. Symphonie bezieht: Worin sich bei ersteren eine Sehnsucht ausspricht, das möchte Wagner mit dem Kunstwerk der Zukunft herbeiführen – und dabei beruft er sich wieder direkt auf Feuerbach:

"Das Ausschließliche, Einzelne, Egoistische, vermag nur zu nehmen, nicht aber zu geben: es kann sich nur zeugen lassen, ist selbst aber zeugungsunfähig; zur Zeugung gehört das Ich und das Du, das Aufgehen des Egoismus in den Kommunismus. ...

In der Darstellung dieses großen Entwickelungsprozesses der Natur am Menschen selbst ist nun das menschliche Geschlecht, seit seiner Selbstunterscheidung von der Natur, begriffen. Dieselbe Notwendigkeit ist die treibende Kraft in der großen Menschheitsrevolution, dieselbe Befriedigung wird diese Revolution abschließen.

Jene treibende Kraft, die eigentliche Lebenskraft schlechtweg, wie sie sich im Lebensbedürfnisse geltend macht, ist aber ihrer Natur nach eine unbewußte, unwillkürliche, und eben wo sie dies ist – im Volke –, ist sie auch einzig die wahre, entscheidende. In großem Irrtume sind daher unsere Volksbelehrer, wenn sie wähnen, das Volk müsse erst wissen was er wolle, d. h. in ihrem Sinne wollen solle, ehe es auch fähig und berechtigt wäre, überhaupt zu wollen. Aus diesem Irrtume rühren alle unseligen Halbheiten, alles Unvermögen, alle schmachvolle Schwäche der letzten Weltbewegungen her.

Das wirklich Gewußte ist nichts anderes als das, durch das Denken zum erfaßten, dargestellten Gegenstande gewordene, wirklich und sinnlich Vorhandene; das Denken ist so lange willkürlich, als es das sinnlich Gegenwärtige und das den Sinnen entrückte Abwesende oder Vergangene nicht mit der unbedingtesten Anerkennung seines notwendigen Zusammenhanges sich vorzustellen vermag; denn das Bewußtsein dieser Vorstellung ist eben das vernünftige Wissen. je wahrhafter aber das Wissen ist, desto aufrichtiger muß es sich wiederum als einzig durch seinen Zusammenhang mit dem, zur sinnlichen Erscheinung gelangten, wirklich Fertigen und Vollendeten bedingt erkennen, die Bedingung der Möglichkeit des Wissens somit als in der Wirklichkeit begründet sich eingestehen. Sobald das Denken aber, von der Wirklichkeit abstrahierend, das zukünftige Wirkliche konstruieren will, vermag es nicht das Wissen zu produzieren, sondern es äußert sich als Wähnen, das sich gewaltig unterscheidet vom Unbewußtsein: erst wenn es sich in die Sinnlichkeit, in das wirklich sinnliche Bedürfnis sympathetisch und rückhaltslos zu versenken vermag, kann es an der Tätigkeit des Unbewußtseins teilnehmen, und erst das, durch das unwillkürliche, notwendige Bedürfnis zutage Geförderten die wirkliche sinnliche Tat, kann wieder befriedigender Gegenstand des Denkens und Wissens werden; denn der Gang der menschlichen Entwickelung ist der vernunftgemäße, natürliche, vom Unbewußtsein zum Bewußtsein, vom Unwissen zum Wissen, vom Bedürfnisse zur Befriedigung, nicht von der Befriedigung zum Bedürfnisse, – wenigstens nicht zu dem Bedürfnisse, dessen Ende jene Befriedigung war.

Nicht ihr Intelligenten seid daher erfinderisch, sondern das Volk, weil es die Not zur Erfindung treibt: alle großen Erfindungen sind die Taten des Volkes, wogegen die Erfindungen der Intelligenz nur die Ausbeutungen, Ableitungen, ja Zersplitterungen, Verstümmelungen der großen Volkserfindungen sind. Nicht ihr habt die Sprache erfunden, sondern das Volk; ihr habt ihre sinnliche Schönheit nur verderben, ihre Kraft nur brechen, ihr inniges Verständnis nur verlieren, das Verlorene mühselig nur wieder erforschen können. Nicht ihr seid die Erfinder der Religion, sondern das Volk; ihr habt nur ihren innigen Ausdruck entstellen, den in ihr liegenden Himmel zur Hölle, die in ihr sich kundgebende Wahrheit zur Lüge machen können. Nicht ihr seid die Erfinder des Staates, sondern das Volk; ihr habt ihn nur aus der natürlichen Verbindung Gleichbedürftiger zum unnatürlichen Zusammenzwang Ungleichbedürftiger, aus einem wohltätigen Schutzvertrage aller zu einem übeltätigen Schutzmittel der Bevorrechteten, aus einem weichen, nachgiebigen Gewande am bewegungsfreudigen Leibe der Menschheit zu einem starren, nur ausgestopften Eisenpanzer, der Zierde einer historischen Rüstkammer gemacht. Nicht ihr gebt dem Volke zu leben, sondern es gibt euch; nicht ihr gebt dem Volke zu denken, sondern es gibt euch; nicht ihr sollt daher das Volk lehren wollen, sondern ihr sollt euch vom Volke lehren lassen: und an euch wende ich mich somit, nicht an das Volk, – denn dem sind nur wenige Worte zu sagen, und selbst der Zuruf: »Tu wie du mußt!« ist ihm überflüssig, weil es von selbst tut, wie es muß. ...

Das Volk also wird die Erlösung vollbringen, indem es sich genügt und zugleich seine eigenen Feinde erlöst. Sein Verfahren wird das Unwillkürliche der Natur sein: mit der Notwendigkeit elementarischen Waltens wird es den Zusammenhang zerreißen, der einzig die Bedingungen der Herrschaft der Unnatur ausmacht. ...

Sind die Bedingungen der Herrschaft der Mode aufgehoben, so sind aber auch die Bedingungen der wahren Kunst von selbst vorhanden, und wie mit einem Zauberschlage wird sie, die Zeugin edelsten Menschentumes, die hochheilige, herrliche Kunst, in derselben Fülle und Vollendung blühen, wie die Natur, als die Bedingungen ihrer jetzt uns erschlossenen harmonischen Gestaltung aus den Geburtswehen der Elemente hervorgingen: gleich dieser seligen Harmonie der Natur wird sie aber dauern und immer zeugend sich erhalten, als reinste, vollendetste Befriedigung des edelsten und wahrsten Bedürfnisses des vollkommenen Menschen, d. h. des Menschen, der das ist, was er seinem Wesen nach sein kann und deshalb sein soll und wird." (S. 18-22)

Nachdem Wagner den Träger, das Ziel und den Weg seiner "Kulturrevolution" damit aufgestellt hat, spießt er die Übel seiner Gegenwart auf, und wieder hebt er mit Feuerbach an:

"Das Erste, der Anfang und Grund alles Vorhandenen und Denkbaren, ist das wirkliche sinnliche Sein. Das Innewerden seines Lebensbedürfnisses als des gemeinsamen Lebensbedürfnisses seiner Gattung, im Unterschiede von der Natur und der in ihr enthaltenen, vom Menschen unterschiedenen, Gattungen lebendiger Wesen, – ist der Anfang und Grund des menschlichen Denkens. Das Denken ist demnach die Fähigkeit des Menschen, das Wirkliche und Sinnliche nach seinen Äußerungen nicht nur zu empfinden, sondern nach seiner Wesenheit zu unterscheiden, endlich in seinem Zusammenhange zu erfassen und sich darzustellen. Der Begriff von einer Sache ist das im Denken dargestellte Bild seines wirklichen Wesens: die Darstellung der Bilder aller erkenntlichen Wesenheiten in einem Gesamtbilde, in welchem das Denken sich die im Begriff dargestellte Wesenheit aller Realitäten nach ihrem Zusammenhange vergegenständlicht, ist das Werk der höchsten Tätigkeit der menschlichen Seele, des Geistes. Muß in diesem Gesamtbilde der Mensch das Bild, den Begriff, auch seines eigenen Wesens mit eingeschlossen haben, ja, – ist dieses vergegenständlichte eigene Wesen überhaupt die künstlerisch darstellende Kraft in dem ganzen Gedankenkunstwerke, so rührt diese Kraft und die durch sie dargestellte Totalität aller Realitäten, doch nur von dem realen, sinnlichen Menschen, ihrem letzten Grunde nach also aus seinem Lebensbedürfnisse, und endlich aus der Bedingung, welche dieses Lebensbedürfnis hervorruft, dem realen, sinnlichen Dasein der Natur, her. Wo im Denken diese verbindende Kette aber fahrengelassen wird, wo es, nach doppelter und dreifacher Selbstvergegenständlichung sich selbst endlich als seinen Grund erfassen, wo sich der Geist nicht als letzte und bedingteste, sondern als erste und unbedingteste Tätigkeit, daher als Grund und Ursache der Natur begreifen will, – da ist auch das Band der Notwendigkeit aufgehoben, und die Willkür rast schrankenlos, – unbegrenzt, frei, wie unsere Metaphysiker wähnen, – durch die Werkstätte der Gedanken, ergießt sich als Strom des Wahnsinns in die Welt der Wirklichkeit. ...

Ist der Geist an sich die Notwendigkeit, so ist das Leben das Willkürliche, ein phantastisches Maskenspiel, ein müßiger Zeitvertreib, eine frivole Laune ... des Geistes; so ist alle rein menschliche Tugend, vor Allem die Liebe, etwas nach Gutbefinden Deutbares und gelegentlich zu Verneinendes; so ist alles rein menschliche Bedürfnis Luxus, der Luxus aber das eigentliche Bedürfnis; so ist der Reichtum der Natur das Unnötige, die Auswüchse der Kultur aber sind das Nötige; so ist das Glück der Menschen Nebensache, der abstrakte Staat aber Hauptsache; das Volk der zufällige Stoff, der Fürst und der Intelligente aber der notwendige Verzehrer dieses Stoffes.

Nehmen wir das Ende für den Anfang, die Befriedigung für das Bedürfnis, die Sättigung für den Hunger, so ist Bewegung, Fortgang, aber auch nur denkbar in einem erkünstelten Bedürfnisse, in einem durch Stimulation erzeugten Hunger; und dies ist in Wahrheit die Lebensregung unserer ganzen heutigen Kultur, und ihr Ausdruck ist – die Mode. Die Mode ist das künstliche Reizmittel, das da ein unnatürliches Bedürfnis erweckt, wo das natürliche nicht vorhanden ist: was aber nicht aus einem wirklichen Bedürfnisse hervorgeht, ist willkürlich, unbedingt, tyrannisch. Die Mode ist deshalb die unerhörteste, wahnsinnigste Tyrannei, die je aus der Verkehrtheit des menschlichen Wesens hervorgegangen ist: sie fordert von der Natur absoluten Gehorsam; sie gebietet dem wirklichen Bedürfnisse vollkommenste Selbstverleugnung zu Gunsten eines eingebildeten; sie zwingt den natürlichen Schönheitssinn des Menschen zur Anbetung des Häßlichen; sie tötet seine Gesundheit, um ihm Gefallen an der Krankheit beizubringen; sie zerbricht seine Stärke und Kraft, um ihn an seiner Schwäche Behagen finden zu lassen. Wo die lächerlichste Mode herrscht, da muß die Natur als das Lächerlichste anerkannt werden; wo die verbrecherischste Unnatur herrschte, da muß die Äußerung der Natur als das höchste Verbrechen erscheinen; wo die Verrücktheit die Stelle der Wahrheit einnimmt, da muß die Wahrheit als Verrückte eingesperrt werden. ...

Das Erfinden der Mode ist .. ein mechanisches. Das Mechanische unterscheidet sich vom Künstlerischen aber dadurch, daß es von Ableitung zu Ableitung, von Mittel zu Mittel geht, um endlich doch immer wieder nur ein Mittel, die Maschine, hervorzubringen; wogegen das Künstlerische gerade den entgegengesetzten Weg einschlägt, Mittel auf Mittel hinter sich wirft, von Ableitung auf Ableitung absieht um endlich beim Quell aller Ableitung, alles Mittels, der Natur, mit verständnisvoller Befriedigung seines Bedürfnisses anzukommen.

So ist denn die Maschine der kalte, herzlose Wohltäter der luxusbedürftigen Menschheit. Durch die Maschine hat diese endlich aber auch noch den menschlichen Verstand sich untertänig gemacht; denn vom künstlerischen Streben, vom künstlerischen Auffinden abgelenkt, verleugnet, verunehrt, verzehrt er sich endlich im mechanischen Raffinieren, im Einswerden mit der Maschine, statt im Einswerden mit der Natur im Kunstwerke.

Das Bedürfnis der Mode ist somit der schnurgerade Gegensatz des Bedürfnisses der Kunst; denn das Bedürfnis der Kunst kann unmöglich da vorhanden sein, wo die Mode die gesetzgebende Gewalt des Lebens ist. In Wahrheit konnte das Streben einzelner begeisterter Künstler unserer Zeit auch nur darauf zielen, jenes notwendige Bedürfnis vom Standpunkte und durch die Mittel der Kunst erst aufzuregen: fruchtlos und eitel muß jedoch all solches Bemühen angesehen werden. Das Unmöglichste für den Geist ist, Bedürfnis zu erwecken; dem wirklich vorhandenen Bedürfnisse zu entsprechen, hat der Mensch überall und schnell die Mittel; nirgends aber, es hervorzurufen, wo die Natur es versagt, wo die Bedingungen dazu in ihr nicht vorhanden sind, Ist aber das Bedürfnis des Kunstwerkes nicht da, So ist das Kunstwerk ebenso unmöglich; nur die Zukunft vermag es uns erstehen zu lassen, und zwar durch das Erstehen seiner Bedingungen aus dem Leben." (S. 22-26)

Eigentlich hätte Wagner an dieser Stelle ebenso resignieren(29) müssen, wie Feuerbach es angesichts einer Revolution zu Unzeit tat – doch sein Temperament ist ein anderes, immer wieder reißt es ihn hin zur Tat, um seine Vorstellungen, und sei es eben "nur" in der Kunst, Wirklichkeit werden zu lassen.

"In Wahrheit haben wir auf diese Weise dem Streben nach Natur innerhalb des modernen Lebens und im Gegensatze zu ihm nur die Manier und den häufigen, unruhigen Wechsel derselben zu verdanken. An der Manier hat sich aber unwillkürlich wieder das Wesen der Mode offenbart; ohne notwendigen Zusammenhang mit dem Leben, tritt sie, ebenso willkürlich maßgebend in die Kunst, wie die Mode in das Leben, verschmilzt sich mit der Mode, und beherrscht, mit einer der ihrigen gleichen Macht, jedwede Kunstrichtung. Neben ihrem Ernste zeigt sie sich – mit fast nicht minderer Notwendigkeit – auch in vollster Lächerlichkeit; und neben Antike, Renaissance und Mittelalter bemächtigen Rokoko, Sitte und Gewand wilder Stämme in neuentdeckten Ländern, wie die Urmode der Chinesen und Japanesen, sich als »Manieren« zeitweise, und mehr oder weniger, aller unserer Kunstarten; ja, der religiös indifferentesten vornehmen Theaterwelt wird der Fanatismus religiöser Sekten, der luxuriösen Unnatur unserer Modewelt die Naivetät schwäbischer Dorfbauern, den feistgemästeten Göttern unserer Industrie die Not des hungernden Proletariers, mit keinen anderen Wirkungen als denen unzureichender Stimulanz, von der leichtwechselnden Tagesmanier vorgeführt." (S. 28)

Auch diese Problematik beschäftigt uns noch heute, etwa unter den Begriffen "Multikulti" oder "deutsche Leitkultur", oder im heutigen "Kunstbetrieb" und seinen Auswüchsen ...

Demgegenüber gilt es nach Wagner, wieder zum Naturnotwendigen und dem freien Zusammenspiel innerhalb des "Volkes" zurückzukehren, aus dem einst Religion wie Kunst, letztere vor allem bei den Hellenen, hervorgegangen sei: Es siegt

"die Allgewalt der sinnlichen Empfindung und des Herzensgefühles, sobald sie als allen Menschen gemeinsame, als Empfindungen und Gefühle der Gattung, dem Verstandesmenschen sich kundgeben. ... die reichste Kombination aller ihm erkennbaren Gegenstände führt ihm aber endlich den Menschen als Gattung und in seinem Zusammenhange mit der ganzen Natur vor, und vor diesem großen, allgewaltigen Gegenstande bricht sich sein Hochmut. Er kann nur noch das Allgemeinsame, Wahre, Unbedingte wollen; sein eigenes Aufgehen nicht in der Liebe zu diesem oder jenem Gegenstande, sondern in der Liebe überhaupt: somit wird der Egoist Kommunist, der Eine Alle, der Mensch Gott, die Kunstart Kunst." (S. 35)

Von da aus gibt Wagner eine weitgefächerte Entstehungsgeschichte der Kunst und ihrer einzelnen Formen Tanzkunst, Tonkunst (mit einem Exkurs über Beethoven als dem Vorläufer seines eigenen Anliegens(30)). An den Beginn setzt er das Einssein der drei Kunstformen in der griechischen Tragödie(31); doch im Verlust der "Volksgemeinschaft" bei den Griechen und deren Zersplitterung in egoistische Stadtstaaten hätten sich ebenso die Kunstformen spezialisiert und sich damit des tragenden Grundes der Gemeinsamkeit dieser Formen und damit ihrer eigentlichen Lebendigkeit begeben. Damit seien sie in Gelehrsamkeit und Nachahmung erstarrt. Aus dieser Vereinzelung seien sie wiederum zu erlösen im Drama als dem Kunstwerk der Zukunft: Shakespeare und Beethoven müssen sich die Hand wieder reichen, sich vereinend im stabreimenden und komponierenden Wagner.

In weiteren Abschnitten behandelt er schließlich die Baukunst, besonders bezugnehmend auf die Gemeinschaft stiftenden Tempel und Theater der Griechen; sodann die Bildhauerkunst, die er ebenfalls bei den Griechen beginnt, und die er bereits als den Anfang der Auflösung des Beisammenseins der Künste in Religion und Tragödie sieht: "Die Periode von diesem Zeitpunkte bis auf unsere Tage ist daher die Geschichte des absoluten Egoismus, und das Ende dieser Periode wird seine Erlösung in den Kommunismus sein." (S. 109) – womit er ausdrücklich und wiederholt diesen Begriff Feuerbachs(32) aufgreift. Ebenso ist ihm die Malerei mit ihrem ersten Höhepunkt bei den Griechen nur eine "Nachblüte" des lebendigen Kunstschaffens in der Tragödie – alle diese vereinzelnd sich spezialisierenden und damit in Manierismus und Moden abirrenden Einzelkünste müssen wieder vereinigt werden im Gesamtkunstwerk Drama, das Wagner in Bayreuth schaffen wird: Musik, Tanz und Dichtung vereint als Bühnengeschehen, unterstützt durch die Architektur des Theaterbaus und die malerische Ausgestaltung der Szene, insgesamt hervorgebracht von der Genossenschaft aller Künstler als Gemeinschaftskunstwerk aus der Mitte des "Volkes" und für dieses Volk.

Rawidowicz(33) faßt Wagners Anliegen im Kunstwerk der Zukunft so zusammen: "Die einzige Rettung liegt für Wagner in der menschlichen Kunst der Zukunft, in der Kunst verbunden mit der Revolution. Nur so kann der ‚starke und schöne Mensch’ geboren werden, der die Stärke der Revolution, die Schönheit der Kunst verdanken würde. ‚Die menschliche Kunst der Zukunft wird in dem ewig frisch und kräftig grünenden Boden der Natur fest wurzelnd, von da aus zu den ungeahntesten Höhen sich erheben, denn ihr Wachsthum geht eben von unten nach oben, wie das des Baumes aus der Erde in die Lüfte, von der Natur des Menschen in den weiten Bezirk der Menschheit’"

Es steht manch Lesenswertes in dieser Schrift, die sich, wie wir gesehen haben in fast allen Grundfragen auf Feuerbach rückbezieht, quasi die Konsequenzen von dessen Anschauungen für die Kunst zieht, die Feuerbach offensichtlich nur ganz am Rande interessiert haben.(34) Und so lässt Wagner denn in der Erstausgabe diese Widmung mitdrucken, die er allerdings bei der Herausgabe seiner "Gesammelte Schriften" unterdrückt:


EA von R. Wagners "Kunstwerk der Zukunft"
Jubiläumsausstellung der LMU München 2004



Wagners Widmung an L. Feuerbach
Jubiläumsausstellung der LMU München 2004

"Niemand als Ihnen, verehrter Herr, kann ich diese Arbeit zueignen, denn mit ihr habe ich Ihr Eigentum Ihnen wieder zurückgegeben. Nur insoweit ist es nicht mehr Ihr Eigentum geblieben, sondern das des Künstlers geworden, mußte ich unsicher darüber sein, wie ich mich zu Ihnen verhalten hätte: ob Sie aus der Hand des künstlerischen Menschen das wieder zurückzuempfangen geneigt sein dürften, was Sie als philosophischer Mensch diesem spendeten....

Mögen aber Sie, verehrter Herr, es mir nicht verübeln, wenn ich durch diese Zueignung Ihren Namen zu einer Arbeit herbeiziehe, die zwar dem Eindrucke Ihrer Schriften auf mich namentlich mit ihr Dasein verdankt, dennoch aber Ihren Ansichten darüber, wie dieser Eindruck hätte verwendet werden sollen, vielleicht durchaus nicht entspricht. Nichtsdestoweniger muß es Ihnen, wie ich vermute, nicht gleichgültig sein, durch einen deutlichen Beleg zu erfahren, wie Ihre Gedanken in einem Künstler wirken und wie dieser – als Künstler – in aufrichtigstem Eifer für die Sache, sie wiederum dem Künstler, und zwar niemand anderem, mitzuteilen versucht."

Die Antwort Feuerbachs auf diese Widmung hin ist zwar nicht erhalten; aber nach Wagners Brief an Uhlig vom 20.9.1850 reagierte jener brieflich so:

"In diesen Tagen hatte ich eine grosse Freude: Feuerbach schrieb mir, und ich machte glücklich einmal wieder die Erfahrung, was es heisst, mit einem ganzen Kerle zu tun zu haben. Da ist kein ‚doch‘ und ‚aber‘, sondern rund und nett sagt er mir gerade heraus, ... daß er nicht begreifen könne, wie man über mein Buch geteilter Meinung sein könnte, daß er es mit Begeisterung, mit Entzücken gelesen habe, mich seiner vollsten Sympathie und seines wärmsten Dankes versichern müsse."(35)

Wagner hat dann Ludwig Feuerbach im Jahre 1851 sogar in die Schweiz eingeladen (typisch Wagner, man denke nur an seine ständige Geldnot!), "...zu ihm in die Schweiz zu übersiedeln, ... um im "politisch desolaten Mitteleuropa alle Kräfte des Neuen an einem Punkt zu versammeln."(36)  – was Feuerbach allerdings ablehnte.

Nun, bekanntlich hat sich Wagner kurz darauf von der Feuerbachschen Philosophie ab- und der Schopenhauerschen zugewandt – wie sagte doch Nietzsche?(37)

"Und er übersetzte den »Ring« ins Schopenhauersche. Alles läuft schief, alles geht zugrunde, die neue Welt ist so schlimm wie die alte – das Nichts, die indische Circe winkt ... Brünnhilde, die nach der ältern Absicht sich mit einem Liede zu Ehren der freien Liebe zu verabschieden hatte, die Welt auf eine sozialistische Utopie vertröstend, mit der »alles gut wird«, bekommt jetzt etwas anderes zu tun. Sie muß erst Schopenhauer studieren; sie muß das vierte Buch der »Welt als Wille und Vorstellung« in Verse bringen. Wagner war erlöst."

Diese Beobachtung einer grundsätzlichen Umwendung Wagners ist sicherlich richtig für die Konsequenzen, die sich Wagner nunmehr bei Schopenhauer entlehnte: vom Optimismus zum Pessimismus – aber die mit Feuerbach entwickelten philosophischen Grundanschauungen behielt er trotzdem bei, wie die konsequente Verwirklichung des im "Kunstwerk der Zukunft" erarbeiteten Programms für Bayreuth denn auch zeigt.(38) Und ob der Mann, der kurz darauf den bayer. König um den Finger wickelt und dies später gar beim deutschen Kaiser zugunsten Bayreuths wieder versucht; der mit unermüdlicher Schaffenskraft im ganzen deutschen Sprachraum reist, um sein Werk zu popularisieren und Geld aufzutreiben; der es liebt, Mittelpunkt großer Gesellschaften zu sein, der Luxus und Seide als Lebenselixier bedarf und so manchem Frauenrock trotz Cosima nachsteigt; dessen Wähnen trotz Wahnfried nie Friede fand bis hin zu seiner Todesstunde in der Villa Vendramin in Venedig – ob dieser Mann als Pessimist im Schopenhauerschen Sinne bezeichnet werden kann? Jedenfalls will er, bevor er sich denn dem Nichts anheim gibt, ganz im Sinne Feuerbachs vor allem erst das Diesseits mit all seiner Sinnenfreude ausgekostet haben.

 

Anmerkungen:

(1) Aufklärung und Kritik 1/1999, S. 128 ff; im Internet unter www.ludwig-feuerbach.de. Neuerdings auch auf polnisch erschienen in der dortigen Philosophie-Zeitschrift "Principia", Bd. XXVII-XXVIII, Krakau 2000, S. 313 ff.

(2) Löwith bringt zu diesem Umsturzversuch in philosophicis durch Feuerbach einige Zitate: "Die bisherige Wohnstätte des Geistes, heißt es in einem Brief aus dieser Zeit, sei zerfallen, man müsse entschlossen »auswandern« ... und nur seine eigenste Habe mit sich nehmen. »Der Wagen der Weltgeschichte ist ein enger Wagen; wie man in ihn nicht mehr hineinkommt, wenn man die bestimmte Zeit versäumt . . ., so kann man auch, wenn man mitfahren will, nur das wesentlich Notwendige, das Seinige, nicht aber den Hausrat mitnehmen« – ein Gleichnis, das, in weltgeschichtlicher Aufmachung, an Kierkegaards Rede vom »Engpaß« erinnert, durch den jetzt jeder hindurch müsse, und von dem »Einen was not tut«. »Der Mensch kann sich nicht genug konzentrieren, Eines – oder Nichts«, sagt auch Feuerbach." Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 4. Aufl.1958, S. 88

(3) Ludwig Feuerbach, Die Grundsätze der Philosophie der Zukunft, Gesammelte Werke, herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Werner Schuffenhauer, Bd. 9, S. 319

(4) aaO., S. 321

(5) aaO., S. 324

(6) aaO., S. 333

(7) aaO., S. 334

(8) aaO., S. 340

(9) Hans Martin Sass, Ludwig Feuerbach, rororo Bildmonographie, Rowohlt Verlag Reinbek, 4. Aufl. 1994, S. 89f.

(10) aaO., S. 342/343

(11) Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Werner Schuffenhauer, Bd. 1, Vorwort S. XXXIX

(12) Brief an Otto Wigand vom 3. März 1948, in: Hans-Martin Sass, Ludwig Feuerbach, rororo Bildmonographie, 4. Aufl. 1994, S. 106

(13) Ludwig Feuerbach, Das Wesen der Religion, Gesammelte Werke, herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Werner Schuffenhauer, Bd. 6, 12. Vorlesung, S. 115

(14) Feuerbach mußte das Werk bezeichnender Weise in der Schweiz drucken lassen

(15) Ludwig Feuerbach, Das Wesen der Religion, aaO., Vorwort S. 4

(16) Kierkegaards etwa gleichzeitiger Diagnose sieht das Zeitalter in der Breite in die Reflexion eingetreten: die Menschen würden mittels Reflexion zum Publikum statt zu handeln. Daran ist sicher soviel richtig, daß Reflektieren zunächst das Handeln hemmt, und Feuerbach war im Gegensatz zu Wagner vor allem Rationalist. Seine Berufung auf die Sinnlichkeit stammt selbst noch – aus der Vernunft.

(17) So etwa 1839 aus Riga oder 1864 aus Wien

(18) Robert Gutmann, Richard Wagner. Der Mensch, sein Werk, seine Zeit. Piper & Co Verlag, München 1970, S. 146

(19) Der Mensch und die bestehende Gesellschaft (Volksblätter 10.2.1849)

(20) Die Revolution (Volksblätter 8.4.1849)

(21) später im "Begnadigungswege" in langjährige Haftstrafen umgewandelt

(22) Richard Wagner, Mein Leben, II. Band, 2. Aufl., Verlag F. Bruckmann A,-G., München 1915, S. 283 ff.

(23) Und so liest sich denn eine Stelle aus Feuerbachs Gedanken zu Tod und Unsterblichkeit, in Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Werner Schuffenhauer, Bd. 1, S. 342, wie das Grundmotiv des "Liebestodes" zur Oper Tristan und Isolde, die Wagner im Züricher Asyl komponiert:

"Und der Tod ist daher, eben weil er die Offenbarung deines Fürdichseins ist, in einem die Offenbarung der Liebe; es tritt in ihm dein Fürdichsein für sich selbst auf, aber ebendarin, daß dieses Selbst im Augenblick der Isolierung tot, nichts ist, in dem Augenblick, wo es ohne den Gegenstand sein will, nicht ist, ist er Offenbarung der Liebe, Offenbarung, daß du nur in und mit dem Gegenstand sein kannst."

(24) Wagner schließt an dieser Stelle: "... Allerdings war es mir nach kurzer Zeit bereits unmöglich geworden, auf dessen Schriften wieder zurückzukommen, und ich entsinne mich, daß sein bald hierauf erscheinendes Buch ‚Über das Wesen der Religion‘, mich bereits der Monotonie seines Titels wegen derart abschreckte, daß ich es Herwegh, der es mir aufschlug, vor den Augen zusammenklappte."

(25) W. Schuffenhauer, Wagner und Feuerbach, Zuerst veröffentlicht in Festschrift "Richard-Wagner-Tage der DDR", Leipzig 1983, S. 50-53; Internet: www.ludwig-feuerbach.de – Seite Wagner und Feuerbach

(26) Thema dieser Wagner-Schrift ist das Verhältnis seiner vorher komponierten Opern zu seinen im "Kunstwerk der Zukunft" und "Oper und Drama" entwickelten Auffassungen.

(27) Heute greifbar in Band 6 der Jubiläumsausgabe "Richard Wagner. Dichtungen und Schriften" in zehn Bänden, hg. von Dietrich Borchmeyer, Insel Verlag Frankfurt/M. 1983. Die Zitatangaben folgen dieser Ausgabe.

Hier die Widmung in gesamter Länge und das Inhaltsverzeichnis

Das Kunstwerk der Zukunft

(Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Hg. v. Dieter Borchmeyer, Band 6, Reformschriften 1849-1852, Erste Aufl. 1983, Insel Verlag Frankfurt/M., S. 190-191)

Ludwig Feuerbach in dankbarer Verehrung gewidmet.

(Erstauflage Leipzig 1850)

Zur Widmung

Niemand als Ihnen, verehrter Herr, kann ich diese Arbeit zueignen, denn mit ihr habe ich Ihr Eigentum Ihnen wieder zurückgegeben. Nur insoweit ist es nicht mehr Ihr Eigentum geblieben, sondern das des Künstlers geworden, mußte ich unsicher darüber sein, wie ich mich zu Ihnen verhalten hätte: ob Sie aus der Hand des künstlerischen Menschen das wieder zurückzuempfangen geneigt sein dürften, was Sie als philosophischer Mensch diesem spendeten. Der Drang und die tief empfundene Verpflichtung jedenfalls Ihnen meinen Dank für die von Ihnen mir gewordene Herzstärkung zu bezeigen, überwog meinen Zweifel.

Nicht Eitelkeit, sondern ein unabweisbares Bedürfnis hat mich – für kurze Zeit – zum Schriftsteller gemacht. In frühester Jugend machte ich Gedichte und Schauspiele; zu einem dieser Schauspiele verlangte es mich, Musik zu schreiben: um diese Kunst zu erlernen, ward ich Musiker. Später schrieb ich Opern, indem ich meine eigenen dramatischen Dichtungen in Musik setzte. Musiker von Fach, denen ich meiner äußeren Stellung nach angehörte, sprachen mir dichterisches Talent zu; Dichter von Fach ließen meine musikalischen Fähigkeiten gelten. Das Publikum gelang es mir oft lebhaft zu erregen: Kritik von Fach haben mich stets heruntergerissen. So erhielt ich an mir und meinen Gegensätzen viel Stoff zum Denken: wenn ich laut dachte, brachte ich den Philister gegen mich auf, der den Künstler sich nur albern, nie aber denkend vorstellen will. Von Freunden wurde ich oft aufgefordert, meine Gedanken über Kunst und das, was ich in ihr wolle, schriftstellerisch kundzugeben: ich zog das Streben vor, nur durch künstlerische Taten mein Wollen zu bezeugen. Daran, daß mir dies nie vollständig gelingen dürfte, mußte ich erkennen, daß nicht der Einzelne, sondern nur die Gemeinsamkeit unwiderleglich sinnfällige, wirkliche künstlerische Taten zu vollbringen vermag. Dies erkennen heißt, sobald dabei im allgemeinen die Hoffnung nicht aufgegeben wird, soviel als: gegen unsre Kunst und Lebenszustände von Grund aus sich empören. Seit ich den notwendigen Mut zu dieser Empörung gefaßt habe, entschloß ich mich dazu, Schriftsteller zu werden, wozu einst mich schon einmal die äußere Lebensnot getrieben hatte. Literaten von Fach, die nach dem Verwehen der letzten Stürme jetzt wieder Luft zu seligem Atem schöpfen, finden es unverschämt, einen operndichtenden Musiker vollends auch noch ihrem Gewerbe sich zuwenden zu sehen. Mögen sie mir den Versuch gönnen, als künstlerischer Mensch keineswegs ihnen, sondern nur denkenden Künstlern, mit denen sie durchaus nichts gemein haben, mich mitzuteilen.

Mögen aber Sie, verehrter Herr, es mir nicht verübeln, wenn ich durch diese Zueignung Ihren Namen zu einer Arbeit herbeiziehe, die zwar dem Eindrucke Ihrer Schriften auf mich namentlich mit ihr Dasein verdankt, dennoch aber Ihren Ansichten darüber, wie dieser Eindruck hätte verwendet werden sollen, vielleicht durchaus nicht entspricht. Nichtsdestoweniger muß es Ihnen, wie ich vermute, nicht gleichgültig sein, durch einen deutlichen Beleg zu erfahren, wie Ihre Gedanken in einem Künstler wirken und wie dieser – als Künstler – in aufrichtigstem Eifer für die Sache, sie wiederum dem Künstler, und zwar niemand anderem, mitzuteilen versucht. Mögen Sie diesem Eifer, den Sie an sich als nicht tadelnswert erkennen werden, nicht nur das beimessen, was in seinem Ausdrucke Ihnen gefällt, sondern auch, was Ihnen mißfällt.

Richard Wagner

Inhalt

Das Kunstwerk der Zukunft (1849)

I. Der Mensch und die Kunst im allgemeinen

1. Natur, Mensch und Kunst
2. Leben, Wissenschaft und Kunst
3. Das Volk und die Kunst
4. Das Volk als die bedingende Kraft für das Kunstwerk
5. Die kunstwidrige Gestaltung des Lebens der Gegenwart unter der Herrschaft der Abstraktion und der Mode
6. Maßstab für das Kunstwerk der Zukunft

II. Der künstlerische Mensch und die von ihm abgeleitete Kunst

1. Der Mensch als sein eigener künstlerischer Gegenstand und Stoff
2. Die drei reinmenschlichen Kunstarten in ihrem ursprünglichen Vereine
3. Tanzkunst
4. Tonkunst
5. Dichtkunst
6. Bisherige Versuche zur Wiedervereinigung der drei menschlichen Kunstarten

III. Der Mensch als künstlerischer Bildner aus natürlichen Stoffen

1. Baukunst
2. Bildhauerkunst
3. Malerkunst

IV. Grundzüge des Kunstwerkes der Zukunft
V. Der Künstler der Zukunft

(28) Insofern Wagner diese hier vertretenen und an Feuerbach gewonnenen Auffassungen ja nie abgelegt hat – sondern nur in ihrer Konsequenz schopenhauerisch änderte! –, sollte sich hier ein "unterirdischer Gedankenstrom" von Feuerbach über Wagner zu Nietzsche und dessen Frühschriften verfolgen lassen, die zum großen Teil unter Wagners Einfluß und in Diskussion mit diesem zustande kamen; dies sollte namentlich für die "Geburt der Tragödie" wie für die drei ersten "Unzeitgemäßen Betrachtungen" gelten.

(29) "Hier sieht denn der Geist, in seinem künstlerischen Streben nach Wiedervereinigung mit der Natur im Kunstwerke, sich zu der einzigen Hoffnung auf die Zukunft hingewiesen, oder zur traurigen Kraftübung der Resignation gedrängt. Er begreift, daß er seine Erlösung nur im sinnlich gegenwärtigen Kunstwerke, daher also nur in einer wahrhaft kunstbedürftigen, d. h. kunstbedingenden, aus eigener Naturwahrheit und Schönheit kunstzeugenden Gegenwart zu gewinnen hat, und hofft daher auf die Zukunft, d. h. er glaubt an die Macht der Notwendigkeit, der das Werk der Zukunft vorbehalten ist. Der Gegenwart gegenüber aber verzichtet er auf das Erscheinen des Kunstwerkes an der Oberfläche der Gegenwart, der Öffentlichkeit, folglich auf die Öffentlichkeit selbst, soweit sie der Mode gehört. Das große Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesamtzwecks aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses große Gesamtkunstwerk erkennt er nicht als die willkürlich mögliche Tat des Einzelnen, sondern als das notwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft. Der Trieb, der sich als einen nur in der Gemeinsamkeit zu befriedigenden erkennt, entsagt der modernen Gemeinsamkeit, diesem Zusammenhange willkürlicher Eigensucht, um in einsamer Gemeinsamkeit mit sich und der Menschheit der Zukunft sich Befriedigung zu gewähren, so gut der Einsame es kann." (S. 28-29)

(30) "Die letzte Symphonie Beethovens ist die Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinsamen Kunst. Sie ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft. Auf sie ist kein Fortschritt möglich, denn auf sie unmittelbar kann nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft, das allgemeinsame Drama, folgen, zu dem Beethoven uns den künstlerischen Schlüssel geschmiedet hat.

So hat die Musik aus sich vollbracht, was keine der anderen geschiedenen Künste vermochte. jede dieser Künste half sich in ihrer öden Selbständigkeit nur durch Nehmen und egoistisches Entlehnen; und keine vermochte es daher, sie selbst zu sein, und aus sich das vereinigende Band für alle zu weben. Die Tonkunst, indem sie ganz sie selbst war, und aus ihrem ureigensten Elemente sich bewegte, gelangte zu der Kraft des großartigsten, liebevollsten Selbstopfers, sich selbst zu beherrschen, ja zu verleugnen, um den Schwestern die erlösende Hand zu reichen. Sie hat als das Herz sich bewährt, das Kopf und Glieder verbindet; und nicht ohne Bedeutung ist es, daß gerade die Tonkunst in der modernen Gegenwart eine so ungemeine Ausdehnung durch alle Zweige der Öffentlichkeit gewonnen hat." (S. 68)

(31) Auch hier wieder ein direkter Berührungspunkt mit Nietzsches Erstling!

(32) Der Begriff begegnete Wagner etwa im Wesen des Christentum. An anderer Stelle sagt Feuerbach: "Was mein Prinzip ist? Ego und alter ego, "Egoismus" und "Kommunismus", denn beide sind so unzertrennlich als Kopf und Herz. Ohne Egoismus hast du keinen Kopf und ohne Kommunismus kein Herz."

(33) S. Rawidowicz, Ludwig Feuerbachs Philosophie. Ursprung und Schicksal. Berlin 1931, Nachdruck 1964 bei Walter de Gruyter &CO, Berlin, S. 391

(34) Es ist auffallend, daß Feuerbach offenbar kein sehr tiefgehendes Verhältnis zur Musik hat, wie etwa Nietzsche; wenn überhaupt, tauchen Äußerungen zur Musik nur ganz beiläufig und beispielhaft auf. Auch hört man nirgends, welche Musik er etwa bevorzugen würde, und nichts über irgendwelche besondere musikalische Eindrücke.

(35) zitiert nach Rudolf Lück, Richard Wagner und Ludwig Feuerbach, Inaugural-Dissertation der philosophischen Fakultät der Universität Jena, Breslau 1905

(36) Gregor-Dellin, Martin, Richard Wagner, Piper Verlag München 1980, S. 350

(37) Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, Nr. 4

(38) So auch Rawidowicz, aaO. S. 410: "... Es ist aber übersehen worden, daß Feuerbach hauptsächlich in einem Punkte Wagner verlassen hat. Er hat Feuerbachs Optimismus verworfen, um sich der Schopenhauerschen Verneinung des Willens zum Leben hinzugeben. Feuerbachs Sensualismus, Anthropologismus und Naturalismus ist aber Wagner auch in seiner Schopenhauer-Periode nicht los geworden. Mit demselben Rechte, mit dem manche Wagner-Forscher Schopenhauersche Elemente in Wagners Schaffen während seiner Feuerbach-Periode ausfindig machen, könnte man, und vielleicht in einem noch gesteigerteren Maße, Feuerbachsches beim Schopenhaurianer Wagner finden. Ganz überwunden hat Wagner also den Feuerbachschen Einfluß auch später nicht."


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