Werner Schuffenhauer (Berlin):

Ein bisher unbekannter Brief Ludwig Feuerbachs.(1)

 

    Vor Wenigem wurde von einem Schweizer Antiquariat aus Privathand ein Originalbrief Ludwig Feuerbachs "An Unbekannt" angeboten. Der "Rechenberg bei Nürnberg, 9. März 1868" datierte Brief richtet sich an einen hochgeschätzten Professor der Medizin; Feuerbach spricht darin seinen Dank dafür aus, daß sein Neffe Anselm, der offenbar plötzlich einer geistigen Störung anheimgefallen war, glücklich in eine Heilanstalt gebracht werden konnte, und verleiht seiner Genugtuung Ausdruck, daß man dort eine alsbaldige Heilung erwartet. Der Brief wurde dankenswerterweise von der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek München erworben und in den Bestand an Korrespondenzen des dort verwahrten Feuerbach-Nachlasses eingegliedert. Mit Genehmigung der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek München – unser Dank gilt insbesondere Frau Dr. C. Töpelmann – geben wir nachfolgend eine Reproduktion des Briefes wieder, der wir die Transkription des Textes nach den Grundsätzen der "Gesammelten Werke" Ludwig Feuerbachs (GW) beifügen, wo der Brief in Band 21 (Briefwechsel V) aufgenommen wurde. Hier der Wortlaut des Briefes:



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"Rechenberg bei N[ürn]b[er]g, 9. März 1868,
Vormitt[ag]

   Hochzuverehrender Herr Professor[,]

     Ihr eben empfangenes gütiges Schreiben
hat mich u[nd] die Meinigen aufs innigste
erfreut und gerührt. Nur Ihrer unerschöpflichen
edlen Menschenliebe, Ihrer unermüdlichen
Geduld u[nd] Langmuth verdanken wir dieses
erfreuliche Resultat, daß ohne Anwendung
gewaltsamer Maßregeln Anselm in die
Heilanstalt gebracht wurde, verdanken wir,
daß wir ohne Sorge u[nd] Unruhe, ja mit
guter Hoffnung schon jetzt seiner Zukunft
entgegensehen. Ein solcher Eingang verspricht
auch einen entsprechenden(1) Ausgang. Diese Zeilen
sollen daher auch nichts weiter enthalten
als einen Ausdruck meiner innigsten, tiefsten
Dankbarkeit u[nd] Verehrung, mit der
ich stets im Stillen war, bin u[nd] sein
werde

Ihr ergebenster L. Feuerbach"

(1)   gestr.: guten

(Originalhandschrift: UB München, Sign. 4o, Cod. ms. 935a / 48. 1 Seite, 8o. )

    Der Brief wurde im Antiquariatsangebot auf Feuerbachs Neffen, den Maler Anselm Feuerbach (1829–1880), Sohn von Feuerbachs ältestem Bruder Joseph Anselm (1798–1851), bezogen. Es erschien dies fürs erste keineswegs unbegründet – geht doch aus Anselm Feuerbachs Briefwechsel des Jahres 1868 hervor, daß er zu dieser Zeit eine schwere, ja beängstigende gesundheitliche Krise durchlebte. So hatte Anselm am 26. Februar 1868 aus Rom die Stiefmutter unterrichtet: "... Ich war die letzten Tage unwohl, faule Todesgedanken und Weinen vor Anstrengung. ... Liebe Mutter, ich habe Sehnsucht, Dich zu sehen; ...ich fühle, daß ich so nicht weiter komme, das Leben gestaltet sich zur Unmöglichkeit, ich ginge vor der Zeit in die Grube." Unter dem 2. Mai erklärte er: "Für meine Gesundheit ist eine Reise notwendig; ich komme in wenigen Wochen nach Baden, möchte bis Mitte Juni bleiben ..." Am 12. Mai 1868 lautete es: "Mein Koffer ist gepackt; ob und wann ich reise, weiß ich noch nicht. ... Meine Gesundheit ist total alteriert – O wie lästig und unerträglich wird mir nach und nach alles ... Ich glaube, daß ich nicht lange mehr mitmache, ich bin müde nach allen Richtungen." (Vgl. J. Allgeyer, Anselm Feuerbach. Zweite Auflage auf Grund der zum erstenmal benutzten Originalbriefe und Aufzeichnungen des Künstlers. Aus dem Nachlasse des Verfassers herausgegeben und mit einer Einleitung begleitet von C. Neumann. Zweiter Band. Berlin/Stuttgart 1904, S. 94-95, 97.) Unter dem 27. August bedankte sich Anselm für die Mühen der Mutter während seines endlich stattgehabten kurzen Heidelberger Aufenthalts, aber erst am 19. Dezember des Jahres lautete es optimistischer: "Ich schicke freundliche Grüße zum neuen Jahre, nachdem ich eine Krisis einigermaßen heroisch überstanden habe. Ich wusste nicht, wie krank ich war, und merkte es erst, als mir die Beine den Dienst versagten. Darauf folgten einige peinliche Stunden. Ich glaube, der Unmut und der starke Wille hat mich herausgerissen. Ich bin vollständig wieder hergestellt. ..." (Vgl. Anselm Feuerbach, Briefe an die Mutter. Aus den in der National-Galerie bewahrten Briefen Feuerbachs ausgewählt und eingeleitet von A. Paul-Pescatore. Berlin/ Königsberg/ Leipzig 1939, S. 293; siehe auch: Anselm Feuerbach, Ein Vermächtnis. Herausgegeben von Henriette Feuerbach, München 1926, S. 205.) Dabei durfte das Jahr 1868 an sich, wie sein Freund und späterer Biograph Julius Allgeyer bemerkte, als "eines der fruchtbarsten in Feuerbachs Leben" angesehen werden: "Nicht allein, daß das Gastmahl [‘Das Gastmahl des Platon. Erste Darstellung, 1869’] erhebliche Fortschritte machte; es entstand auch eine ansehnliche Zahl neuer Bilder, ungerechnet eine Reihe von ausgeführten Landschafts-, Meer- und Blumenstudien in Oel, und bedeutender Anfänge und Entwürfe zur Behandlung der Medeensage [‘Medea auf der Flucht, einen Knaben an der Hand führend’, ‘Medea mit beiden Kindern’]." Ein biographischer Abriß zur Ausstellung "Anselm Feuerbach und Italien", die in Livorno vom 28. Juli bis 3. Dezember 2000 gezeigt wurde, hob für das Jahr 1868 hervor: "Krankheit und Erregungszustände. Im Mai [nach dem 12. Mai] in Heidelberg, dann Kassel und Dresden, wieder Heidelberg und Mitte August über München und Verona nach Rom [20. August]." Unter all diesen Zeichen ließ sich die aus Ludwig Feuerbachs Brief sprechende große Besorgtheit der Angehörigen durchaus auf Anselm, den Maler, beziehen. Näher betrachtet waren jedoch erhebliche Zweifel anzumelden.

    Es ist bekannt, daß die berühmte Gelehrtenfamilie Feuerbach eine Reihe ernster Erfahrungen mit der mitunter tragischen Verknüpfung von Hochbegabung und psychischer Belastung durchzumachen hatte (vgl. hierzu die grundlegende Studie von Th. Spoerri, Genie und Krankheit. Eine psychopathologische Untersuchung der Familie Feuerbach. Basel /New York 1952). Paul Johann Anselm (1775–1833), dem Kriminalisten und Strafrechtsreformer, Haupt der Gelehrtendynastie Feuerbach, war öfteres, mitunter geradezu hypochondrisches Schwanken seiner Stimmungslage nachgesagt worden. Der älteste Sohn, Joseph Anselm, hervorragender Archäologe und Vater des kongenialen Künstlers Anselm, hatte schon von Jugend an mit Schwermut und anderen sehr belastenden Äußerungen einer Gemütskrankheit, noch mehr nach dem plötzlichen Tod seiner jungen Frau, Mutter seiner zwei Kinder, zu schaffen gehabt. Seine zweite Gattin Henriette, geb. Heydenreich (1812–1892), hat in den nachgelassenen Werken des früh Verstorbenen ihrem Mitleiden um den Gatten angesichts der schicksalhaften und zunehmend zerstörerischen Macht des kranken Gemüts Ausdruck verliehen. (Vgl. hierzu auch M. Flashar, Ein ausgebrannter Vulkan. Zum 150. Todestag des Archäologen Josph Anselm Feuerbach, in: Zeitschrift für Archäologie und Kulturgeschichte, 32. Jg., H. 6, Mainz 2001). Der geniale junge Erlanger Mathematiker Karl Feuerbach 1800–1834), zweitältester Sohn des Kriminalisten, wurde wegen führender Teilnahme an verbotener oppositioneller Studentenbewegung Opfer der Verfolgungen des Jahres 1824, verfiel in der Haft in Zwangsvorstellungen und glaubte durch Selbstopferung, die ihn zu zwei Suizidversuchen trieb, die Freiheit seiner mitgefangenen Kommilitonen erwirken zu können. Die älteste Tochter P. J. Anselm Feuerbachs Magdalena (genannt: Helene, 1808–1891), hochgebildet, schriftstellerisch und musikalisch begabt (vgl. Magdalena Freifrau von Dobeneck, geb. Feuerbach, Briefe und Tagebuchblätter aus Frankreich, Irland und Italien: mit einem kleinen Anhang von Compositionen und Gedichten, Nürnberg 1843) verfiel, zu frühzeitig verehelicht, unter der gefühlsarmen Enge ihrer Ehe leidend, in exentrische Verehrung des berühmten Geigenvirtuosen Paganini, um ihn, als er sich ihr zu nähern gewillt war, dann jäh zu verstoßen und in religiös-schwärmerische ekstatische Zustände zu verfallen – ein psychischer Schub, der Jahre später – nach positiver Wirksamkeit als Erzieherin und Gesellschaftsdame, freilich auch häufig wechselnden Aufenthaltsorten und zuweilen unsteter Reisetätigkeit durch England, Frankreich, Deutschland und der Schweiz – abermals auftrat (Th. Spoerri, a. a. O., S. 76-79).

    Wie Henriette Feuerbach, die hingebungsvoll um ihren Gatten und ebenso voller Selbstaufopferung um Anselm bemüht war, so hatte Ludwig Feuerbach durch die Sorge um seinen Bruder Karl und seine Lieblingsschwester Helene schon frühzeitig eigene Erfahrungen mit dem heimtückischen Familienerbe gewonnen. Die Heilanstalt Winnetal (Winnenden) in Baden, die unter Leitung des hochverdienten "Seelenarztes" und Forschers Dr. Albert Zeller stand, kannten sie durch Helenes längeren Aufenthalt daselbst – ein Aufenthalt, der auch durch Krankenkartei und -akte sicher verbürgt ist (vgl. Th. Spoerri, a. a. O., S. 76; zu Winnetal vgl. H. Waldenmaier, Mit Freuden hindurch! Albert Zeller, der Arzt und Seelsorger. Ein Lebensbild. Stuttgart 1927). Nun ergaben sich jedoch keinerlei Anhaltspunkte für einen Aufenthalt des Malers Anselm in Deutschland zu dem durch den Brief fixierten Zeitpunkt; ebensowenig erbrachten unsere Nachfragen in Winnetal Spuren eines etwaigen Besuchs der Anstalt durch den Künstler. Unwahrscheinlich musste auch erscheinen, daß sich ein betreuender Arzt aus dem Badischen unmittelbar mit Feuerbach, der zu dieser Zeit seinen Wohnsitz am Rechenberg bei Nürnberg hatte, in Verbindung setzte, wo doch die damals in Heidelberg lebende Schwägerin Henriette mit Feuerbach zu korrespondieren und die Beziehungen zu den in und bei Nürnberg lebenden Angehörigen der Feuerbach-Familie aufrechtzuerhalten pflegte. Im Dezember 1866 hatte Anselm seinen "Onkel Ludewig", nachdem man sich ganze siebzehn Jahre seit der für Anselm eindrucksvollen Begegnung mit Feuerbach in der Revolutionszeit (Vgl. GW 19, S. 153, 472) nicht mehr gesehen hatte, überraschend auf der Durchreise von Rom am Rechenberg bei Nürnberg besucht (An L. Pfau, 23. Dezember 1866, W. Bolin, Ausgewählte Briefe von und an Ludwig Feuerbach, a. a. O., S. 333). Feuerbach hatte dann mit Freuden von Anselms Erfolgen auf der Pariser Weltausstellung 1867 vernommen (Von L. Pfau, 11. Juni 1867, Feuerbach-Nachlaß. UB München). Im Oktober des besagten Jahres 1868 konnte Feuerbach Henriette im Haus am Rechenberg begrüßen, von wo aus sie sich über die äußerst bescheidenen Lebensverhältnisse, die Armut Feuerbachs, verbreitete: "Es ist ein furchtbar ernstes und tragisches Schauspiel, einen so edlen, herrlichen und reich begabten Geist wie Ludwig Feuerbach durch die elendeste aller Krankheiten allmählich zerstört zu sehen ..." (vgl. W. Dobbek, Die Akte Ludwig Feuerbach, Veröffentlichungen aus dem Archiv der Deutschen Schillerstiftung, H. 2, Weimar o. J. [1961], S. 25). Im Frühjahr 1869 machte sich Feuerbach nach Heidelberg auf, um seine Tochter, die den Winter über dort bei der Tante Henriette zugebracht hatte, abzuholen (vgl. W. Bolin, a. a. O., S. 193). Bei allen diesen Gelegenheiten gab es nach den gegebenen Überlieferungen keinerlei Anspielungen oder Bezugnahmen auf einen etwaigen Anstaltsaufenthalt des Malers. Die Überlegungen und Recherchen mußten also in eine andere Richtung geführt werden.

    Nun hatte Feuerbach einen weiteren, gegenüber dem Maler dreizehn Jahre jüngeren Neffen, ebenfalls mit dem Rufnamen Anselm, Sohn seines Bruders Eduard August (1803–1843) – eine Namensgebung, die auf einen brüderlich-kritischen Disput zwischen Eduard und Ludwig zurückgeht. Eduard, wohlbestallter Professor der Rechte in Erlangen, hatte anläßlich der Geburt seines Sohnes am 5. August 1842 Ludwig, der als Privatgelehrter im nahegelegenen Bruckberg bei Ansbach lebte, geschrieben: "Da mir ein Söhnlein geboren worden ist, ersuche ich Dich, Patenstelle zu vertreten ..." Unter dem Eindruck der ungemeinen Zustimmung, die Ludwigs kurz zuvor erschienene Schrift "Das Wesen des Christentums" (1841) fand, aber auch ihrer polarisierenden Wirkungen eingedenk, konnte sich Eduard nicht einer Anspielung enthalten: "Möge er Dir in allem Guten gleichen, aber nicht in Deiner Richtung gegen das Christentum ...", worauf Ludwig erwiderte: "Meinen Glückwunsch zu Deinem Söhnlein und meinen Dank für Deinen Antrag. ... Da ... Du an meiner antichristlichen Richtung Anstoß nimmst – eine Richtung, die so mit mir verwachsen ist, dass sie nur mit meinem Leben enden wird –, so rate ich Dir, ohne alle Rücksicht und Bedenklichkeit einen andern Paten zu nehmen. Willst Du nicht außer dem Hause suchen, so steht Dir ja noch immer Anselm in Freiburg zu Gebote. ... Da aber so viele Anselm Feuerbach es schon gibt, so kannst Du zur Unterscheidung noch einen, der nur seinen Namen hergibt, mich ... oder wen Du willst, wählen und dazufügen. ... Ich mache Dir folgenden entscheidenden Vorschlag: Handle im Geist der Zeit, welche ein widerspruchsvolles Gemisch von Christentum und Heidentum für Christentum ausgibt, und gib daher Deinem Söhnlein zur Erinnerung an diese Zeit den antichristlichen Namen Ludwig und den christlichen Namen Anselm. So bist Du aus aller Verlegenheit." (Vgl. GW 18, Briefe 314, 315.) Unabhängig davon, wie Eduards Intervention gegen die eingeschlagene Richtung des Bruders gemeint war, ob aus ihr nicht vor allem nur die Besorgnis um eine weitere Blockierung des beruflichen Fortkommens des Bruders sprach (vgl. GW 18, S. 490) – der Sohn erhielt tatsächlich den Namen Anselm Johann Ludwig. Wie im folgenden näher nachzuweisen sein wird, bezieht sich Feuerbachs Schreiben vom 9. März 1868 auf diesen Anselm, Feuerbachs Patenkind und zweiten Neffen.

    Eduard hatte mit seinem Bruder Ludwig durch zeitweise gemeinsamen Aufenthalt in Erlangen während des Studiums und sich anschließender Lehrtätigkeit an der Universität einen engen Umgang. Öftere Besuche von Erlangen aus bei Ludwig im nahegelegen Bruckberg brachten dann weitere Bindungen, zumal er dort in Sidonie Stadler (1821–1892), einer Tochter der älteren Schwester von Feuerbachs Gattin, seine Ehefrau fand. Unter ungeklärten Umständen fand Eduard, der mit Frau und Kindern zu einer Familienfeier auf Schloß Bruckberg weilte, am 25. April 1843 einen plötzlichen Tod infolge einer Vergiftung. L. Feuerbach hat in dem Nekrolog "Andenken an Eduard August Feuerbach" (GW 9, S. 344-352) in brüderlicher Liebe der wissenschaftlichen Leistungen, des unbestechlichen Tugend- und Pflichtsinnes des Bruders und der bescheidenen Lauterkeit seines Charakters und Lebens gedacht. Er nennt ihn den Lieblingssohn P. J. Anselm von Feuerbachs, da er der Gehorsamste unter den Söhnen war und sich trotz großer Neigung zu den Naturwissenschaften dem väterlichen Beruf des Juristen zuwandte. Er verschweigt auch nicht, daß Eduard auch am väterlichen Erbe zu tragen hatte, indem er sich bisweilen "Übel aller Art fingierte, erst Krankheiten, dann politische, endlich persönliche Feinde", was seine Freunde und Bekannten "Hypochondrie" nannten (a. a. O., S. 347). Mit Eduards Tod erlangte die Ludwig zugedachte Rolle des Patenonkels den Charakter eines besonderen Vermächtnisses. Zumal Eduards Witwe längere Zeit mit den Kindern auf Schloß Bruckberg verblieb, wird im überkommenen Briefwechsel Feuerbachs aus der Bruckberger Zeit sporadisch auch der gemeinsamen Fürsorge um die eigene Tochter und die Kinder des Bruders gedacht (vgl. GW 18, S. 375, 424, GW 19, S. 64). Im Brief an F. Kapp, 22. Februar 1852 erklärte Feuerbach bestimmt: "Mein Lorchen [Feuerbachs Tochter Leonore] ist sehr groß und lernt fleißig Englisch. Ich habe für sie und die Kinder meines Bruders Eduard einen Hauslehrer, einen ausgezeichneten Pädadagogen und Schulmann ..." (GW 19, S. 369). Tragischerweise nahm sich J. P. Scheuenstuhl, der von den Kindern geschätzte Hauslehrer, nach wenigen Monaten infolge nicht verkrafteter Anfeindungen wegen seiner Teilnahme an revolutionären Aktionen 1848/49 das Leben. Hierzu schrieb Feuerbach an O. Wigand, seinen Leipziger Verleger, im August 1852: "Sie können sich den Eindruck denken, den eine solche Tat einer so nahe gehenden Person auf eine Familie macht. Mein kleiner Neveu, der Sohn meines verstorbenen Bruders Eduard, war so außer sich, daß ich noch an demselben Tage, wo die Nachricht hier eintraf, ihn nach Ansbach [offenbar zu Dr. F. W. Heydenreich, Bruder seiner Schwägerin Henriette und Hausarzt der Familie] brachte und seitdem dort ließ. Was ich aber ferner mit diesem, mit den andern Kindern mache, darüber herrscht noch die größte Verwirrung in meinem und der Meinigen Kopfe. Erst gestern war ich wieder in Ansbach, um über dortige Lehrer und Lehranstalten genaue Kenntnis einzuholen." (GW 19, S. 402). Diese Begebenheit verweist auf eine hochsensible Natur Anselms. Über den seiner späteren Doktorarbeit beigegebenen, lateinisch gefaßten Lebenslauf (Universitätsarchiv Erlangen-Nürnberg, C 3/3, Nr. 1865/66, 23-26) erfahren wir, daß er, "im Hausunterricht vorbereitet", in Ansbach das Gymnasium bis 1861 besuchte und anschließend fünf Jahre an der Erlanger Universität Medizin studierte (nach der "Übersicht des Personal-Stands bei der Königlich Bayerischen Friedrich-Alexanders-Universität Erlangen" von Sommersemester 1862 bis Sommersemester 1866). Bereits Mitte Juni 1866 verteidigte er dort, im Fach der Chirurgie spezialisiert, seine Dissertation "Die Diverticel des Oesophagus [Erweiterungen der Speiseröhre] mit besonderer Rücksichtnahme der durch Zug entstandenen, der Traktionsdivertikel nach Herrn Prof. Dr. Zenker." und erwarb mit der Note "Sehr gut" den Grad eines Doktors der Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe). Anselm durfte seine Dissertation handschriftlich einreichen. Das gestochen klar geschriebene und akribisch durch handgezeichnete Abbildungen ergänzte Manuskript im Umfang von insgesamt 62 engbeschriebenen Seiten in 4º läßt auf eine hochbefähigte, peinlich korrekte, sehr belesene und praktisch erfahrene Persönlichkeit schließen. Als Schüler des 1862 nach Erlangen berufenen Professors für Pathologische Anatomie F. A. v. Zenker (1825–1898), hatte er sich einer sehr komplexen und seinerzeit richtungsweisenden anatomisch-pathologischen und chirurgischen Thematik verschrieben, deren Bedeutung in dem noch heute üblichen Eponym "Zenkersches Divertikel" Ausdruck findet (vgl. Erlanger Stadtlexikon, hrsg. von Ch. Friederich u. a., Nürnberg 2002, Art.: Zenker, Friedrich Albert von, S. 760).

    Zur Zeit des Studienabschlusses brach der deutsch-österreichische Krieg aus und Anselm trat in die bayerische Armee ein, wo man ihn, wie es in der Familienüberlieferung hieß, sogleich in der verlustreichen, die Niederlage Österreichs und seiner Verbündeten besiegelnden Schlacht von Königgrätz (3. Juli 1862) als Militärarzt eingesetzt haben soll (vgl. J. Mayer, in: [Paul Johann] Anselm von Feuerbach, Georg Friedrich Daumer, Anselm Johann Ludwig Feuerbach: Kaspar Hauser. Editiert und mit Hintergrundberichten versehen von Johannes Mayer und Jeffrey M. Masson, Frankfurt am Main 1995, S. 312). Die bayerischen Truppen wurden aber erst in der Schlußphase des Krieges in militärische Auseinandersetzungen verwickelt und zwar wesentlich in Unterfranken (besonders Kissingen, und Würzburg); sie verloren 47 Offiziere, 282 Unteroffiziere und Mannschaften und zählten 1858 Verwundete (zu den militärischen Ereignissen vgl. insbesondere R. Ecke, Franken 1866. Versuch eines politischen Psychogramms. Schriftenreihe des Stadarchivs Nürnberg. Bd. 9, 197, S. 29-41). In Erlangen errichtete man mehrere Lazarette zur Versorgung von Verletzten beider kriegführender Seiten und durchziehender Truppen, so daß sich "Königgrätz" hier wohl eher auf eine vor allem nach dem Siege der Preußen und ihrer Verbündeten und der Demobilisierung bzw. Reduzierung der bayerischen Armee in Erlangens Lazaretten abgeleistete militärärztliche Assistenz beziehen wird. Nach geltenden bayerischem Reglement hatte ein jeder Arzt ein Biennium, eine zweijährige Tätigkeit als Assistenzarzt, zu absolvieren, ehe er seine Approbation (Zulassung) erlangte. In dieser Zeit, vielleicht ausgelöst durch im Lazarett tagtäglich begegnende menschliche Tragödien im Gefolge erlittener Kriegsverletzungen, zeigten sich bei Anselm im Februar 1868 offenbar plötzlich schwere psychische Störungen, so daß die Familie in äußerste Aufregung versetzt war und der junge Arzt dringendst selbst ärztlicher Hilfe bedurfte. Anselm kam in die Obhut von Friedrich Wilhelm Hagen (1814–1888), a. o. Prof. der Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Universität Erlangen und Direktor der "Kreis-Irrenanstalt Erlangen". Er wurde am 8. März 1868 als Patient in die Erlanger Heilanstalt aufgenommen, verzeichnet unter Nr. 832 im "Grundbuch", dem Patientenverzeichnis der Heilanstalt, das im heutigen Erlanger Klinikum am Europakanal, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin, verwahrt wird und dessen Einsichtnahme uns freundlicherweise Frau R. Stalz, Direktorin des Klinikums, ermöglichte. Wie auch in Feuerbachs Schreiben betont, ergab sich glücklicherweise von Anbeginn eine günstige Prognose der Erkrankung. Nach fünf Monaten, am 5. August des Jahres, konnte Anselm – geheilt – die Anstalt wieder verlassen. Damit ist der Bezug des Feuerbachschen Schreibens auf den Neffen Anselm Johann Ludwig eindeutig erwiesen.

    Die Betreuung durch den bedeutenden Wegbereiter moderner Psychiatrie und Heilpraxis F. W. Hagen war sicher Jakob Herz (1816–1879, seit 1863 a. o. Professor der Medizin und Prosektor am Anatomischen Institut der Universität Erlangen) zu danken, worauf noch eingegangen wird. Eine unmittelbare, persönliche Beziehung Ludwig Feuerbachs zu Hagen ist nicht bekannt. In den aus Familienbesitz überkommenen Stücken aus Hagens Nachlaß, darunter auch allgemeinere "Lesefrüchte" und "Literatur-Exzerpte", deren Einsichtnahme wir Herrn Dr. Cl. Wachter, Archiv der Universität Erlangen-Nürnberg, zu danken haben, zeigen Auseinandersetzungen mit W. Wundt, G. Th. Fechner, K. Vogt, jedoch keine Spuren einer Befassung mit Feuerbach – auch wenn bereits Themen von Hagens früher Schrift "Psychologische Untersuchungen. Studien im Gebiete der physiologischen Psychologie, Braunschweig 1847, Feuerbachsche Positionen über den Zusammenhang von Leib und Seele anklingen lassen.("I. Was physiologische Psychologie sei"(2), "II. Vom Weinen", III. "Von der Schamröthe", "IV. Beitrag zur Lehre vom Schmerz"). Hagens Eintragungen im "Grundbuch" der Heilanstalt zeigen Informiertheit über die Familie Feuerbach; einige Notizen lassen aber zugleich eine gewisse kühle Distanz des nüchternen Fachmannes erkennen. Anselms Diagnose lautete: "Manie [Irresein].", Dauer der Krankheit vor Aufnahme: "4 Wochen"; zur Frage der "Erblichkeit" wurde lakonisch vermerkt:: "Die ganze Feuerbachsche Familie exaltirte. Ein Onkel hatte Ahasverie [Ruhelosigkeit] [?] und Geistesstörung", was sich vermutlich auf Feuerbachs Bruder Johann Anselm, den Vater des Malers, bezieht. Eintragungen von F. W. Hagen aus späterer Zeit im "Grundbuch" entsprechen seiner fortdauernden Anteilnahme am Schicksal seiner Patienten. So lautet es dort zum weiteren Lebensgang Anselms: "Im November 1874 starb eine an Rechtsanwalt Heigl verheirathete Schwester nach längerem Leiden [nach Th. Spoerri, Genie und Krankheit ..., a. a. O., S. 114, war die um zwei Jahre ältere Schwester Elise mit dreiunddreißig Jahren an Lungentuberkulose verstorben]. F[euerbach] selbst ist in dieser Zeit noch Militärassistenzarzt, auch 1877. 1880 ist er Stabsarzt, ist wissenschaftlich und journalistisch thätig." Dieser Hinweis ist insofern interessant, als von Anselm Johann Ludwig bisher lediglich eine 1906–08 niedergeschriebene Abhandlung "Hinwegschaffung von Persönlichkeiten" überliefert ist (vgl. J. Mayer, a. a. O., S. 313-342,9). Es handelt sich hier um eine familiengeschichtliche, kriminologisch-medizinische Untersuchung, die den Tod P. J. Anselm von Feuerbachs (1833) sowie seiner Söhne Eduard (1842) und Johann Anselm (1851) mit dem Fall "Kaspar Hauser" in Zusammenhang bringt, mit von badischer Seite befürchteten Enthüllungen über die Herkunft des Ansbacher Findelkinds. Eine besondere Rolle wird dabei dem vom Kriminalisten Feuerbach der bayerischen Königin-Mutter Friederike Wilhelmine Caroline, Prinzessin von Baden und Hochberg, vertraulich zur Kenntnis gebrachten "Memoire über Kaspar Hauser" (vgl. GW 12, S. 567-578) zugewiesen, das – eine genealogisch-kriminologische Glanzleistung – eine geschlossene Indizienkette entwickelt, die die verbreitete Annahme untermauerte, daß Kaspar Hauser der rechtmäßige, für tot erklärte und beiseite geschaffte badische Thronerbe ist, womit das amtierende badische Haus eines schweren Verbrechens bezichtigt wurde. Nach dem bereits unter dem Aspekt eines verschwörerischen Anschlags betrachteten Tod des "Kriminalisten" gelangte das Memoire in den Besitz des jeweils ältesten lebenden Sohns, woraus sich nach Auffassung Anselms Attacken auch auf deren Leben erklärten, bis endlich Ludwig Feuerbach 1851 den geheimnisumwitterten Text kurzerhand veröffentlichte und so seinen Bann brach (vgl. GW 12, S. 567-578), zugleich aber – im Nachklang der Revolution – auf mögliche dynastische Machenschaften und Verbrechen aufmerksam machte. Anselm geht in seiner Studie minutiös allen nachweisbaren pathologisch-medizinischen Anzeichen der Todesumstände des Großvaters, des Onkels Johann Anselm und seines Vaters nach, wobei seine Annahmen auf einer verbrecherischer Verbringung Kaspar Hausers und späterer kaltblütiger Ermordung basieren. In Bezug auf die Spekulationen über die Herkunft Kaspar Hausers und die Hintergründe seines plötzlichen Todes hatte es 1996 den Anschein, als setze eine vom Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" initiierte Untersuchung mit Mitteln der modernen Gen-Analyse den bis in unsere Tage immer wieder aufkommenden Mutmaßungen einen Schlusspunkt – ihr Ergebnis schloß eine fürstlich-badische Abstammung Kaspar Hausers aus. Die Aufdeckung bei dieser Untersuchung unterlaufener Verfahrensmängel und die Anwendung zuverlässigerer Methoden der Analyse haben jedoch inzwischen – nach Angaben der "Kaspar Hauser-Forschung, Offenbach a. M." (vgl. auch "Kaspar Hauser im Genlabor", Reihe "Sphinx, Geheimnisse der Geschichte" Sendung des deutsch-französischen Fernsehsenders "arte" am 17. August 2002) – erbracht, daß die Abkunft Kaspar Hausers noch keineswegs als aufgeklärt betrachtet werden darf. Insofern scheint auch die spezielle Abhandlung des Feuerbach-Neffen noch immer hinterfragbar zu sein.

    Ludwig Feuerbach wendet sich in seinem Brief vom 9. März 1868 an einen von ihm sehr geschätzten, ja – wie die Schlußformeln, insbesondere das " war, bin und sein werde" verdeutlichen – geradezu innig verehrten Mann der medizinischen Wissenschaft. In Erlangen hatte sich unter F. von Dittrich (1815–1859), seit 1850 Prof. für Therapie und Innere Klinik, eine den Traditionen der Prager und der Wiener naturwissenschaftlichen Richtung nahestehende Gruppe von Ärzten zusammengefunden, mit der Feuerbach über seinen alten Freund Emil E. G. von Herder (1783–1855), Sohn des großen Herder, bekannt wurde. So berichtete Feuerbach Jakob Moleschott unter dem 23. Juni 1853: "Während meines hiesigen Aufenthalts war ich auch ein paarmal auf einige Stunden in Erlangen und mit dortigen Ärzten der neuen materialistischen Schule, namentlich meinem Liebling dem Dr. Herz, in höchst angenehmen Verkehr." ( GW 20, S. 44). Ein kürzlich bekannt gewordener Brief Feuerbachs an Dr. Herz aus dem Jahre 1855, den Herbert Albrecht, Berlin, unserer Gesamtausgabe zur Verfügung stellte (er erscheint in GW 21 und wurde vorab in der WebSite der Nürnberger Feuerbach-Gesellschaft e. V. publiziert), weist auf eine anhaltende Beziehung zu den Erlanger Ärzten hin, denn Feuerbach läßt sich ihrem "abendlichen Freundeskreis" empfehlen. Insbesondere muß sich eine gewisse Vertrautheit zu dem zwölf Jahre jüngeren Dr. Herz herausgebildet haben, denn er bat ihn in diesem Brief um Mittlerdienste zur Erlangung eines Erlasses von Studiengebühren für den in Erlangen studierenden Bruder eines langjährigen Freundes. Auch hier brachte Feuerbach Dr. Herz gegenüber seine "innige Verehrung" zum Ausdruck. Im zur Rede stehenden, über ein Jahrzehnt späteren Briefe Feuerbachs fällt ebenfalls jene bemerkenswerte Hochschätzung auf, die ansonsten kaum in Feuerbachs Briefwechsel begegnet. Es wird hier insbesondere die "unerschöpfliche edle Menschenliebe", die "unermüdliche Geduld und Langmut" des vermittelnden Professors und die eigene, "innigste, tiefste Dankbarkeit und Verehrung" bekundet, was unsere Annahme, Feuerbachs Schreiben richtete sich an den ihm seit Jahren bekannten und von ihm hochgeschätzten Erlanger Professor und Arzt Jakob Herz begründet erscheinen läßt.

    Jakob Herz war ein Kind Mittelfrankens, 1816 in Bayreuth als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren. Nach dem Gymnasialbesuch in Bayreuth nahm er 1835 das Studium der Medizin in Erlangen auf und promovierte 1839 mit einer Arbeit "De pedibus incurvis [Über verkrümmte Füße]", d. h. über Klumpfüße, wobei Herz den üblichen, aber inhuman anmutenden medizinischen Terminus "pes equinus versus" (wörtlich: gekrümmter Pferdefuß) vermied. Herz wirkte dann als Assistenzarzt bei Prof. Dr. Louis Stromeyer, der 1838 auf den Erlanger Lehrstuhl für Chirurgie berufen worden war und alsbald, gemeinsam mit Jakob Herz, durch operative Behandlung von Klumpfuß-Bildungen Aufsehen erregte. Nachdem Stromeyer einer Berufung nach München folgte, führte Herz die erfolgreiche, neuartige Behandlung in Erlangen fort. Er machte durch Publikationen und Vorträge zu neuen operativen Techniken von sich reden. "Ohne Dozent zu sein, entwickelte er eine intensive Lehrtätigkeit. Seine Repetitorien über spezielle und chirurgische Anatomie gehörten zu den besuchtesten Vorlesungen der Universität." (S. Wininger, Große jüdische National-Biographie ..., Bd. 3, [Czernowitz] 1928, S. 494.) Er wurde Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften und schließlich 1847, mit mäßiger Bezahlung, Prosektor am Anatomischen Institut, wirkte jedoch zugleich am Universitätskrankenhaus, zunächst unter dem Chirurgen und Augenheilkundler Prof. J. F. Heyfelder (1798–1869), nach dessen Weggang kurzzeitig als kommissarischer Leiter der Chirurgischen Klinik und dann ab 1854 unter Prof. F. v. Dittrich, in dessen Umkreis, wie bereits bemerkt, Feuerbach Dr. Herz kennenlernte. Daß Herz lieber auf akademische Aufstiegschancen verzichtete als seine Überzeugungen aufzugeben, als der Senat der Universität ihm 1854 wegen seines jüdischen Glaubens die Habilitation als Voraussetzung akademischer Lehrtätigkeit und Berufung verweigerte, hatte Feuerbach nur noch enger mit ihm verbunden. Ihm selbst war ja zu früherer Zeit an dieser Universität – obwohl ebenfalls in seinem Fache bereits weithin bekannt und anerkannt und erfolgreich als Dozent – vor allem wegen seiner freien Religionsauffassung der Aufstieg zur außerordentlichen Professur verstellt worden (vgl. GW 13, S. XVIII-XIX; Erlanger Stadtlexikon, a. a. O., Art.: Feuerbach, Ludwig, S. 256). Nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Bayern 1861 wurde die längst fällig gewesene akademische Anerkennung des weithin geschätzten und hochverdienten Klinikers und Lehrers zunächst nur halbherzig betrieben; erst Herz’ enttäuschte Ankündigung, die Stadt verlassen zu wollen, führte zur Berufung zum außerordentlichen Professor, der erst 1869 – zwei Jahre vor seinem Tode – die ordentliche Professur folgte. Immerhin war aber Herz als erstem Juden in Bayern die gebührende akademische Anerkennung zuteil geworden. Herz’ Ruhm als "Fanatiker der Wohltätigkeit" verband sich während der Kriegsjahre 1866 und 1870/71 mit großem Engagement in der Betreuung von Kriegsverwundeten in den Erlanger Lazaretten, wofür ihm Auszeichnungen zuteil wurden und die Stadt ihm in Anerkennung seiner tätigen Nächstenliebe 1867 die Ehrenbürgerschaft verlieh. (vgl. Erlanger Stadtlexikon, a. a. O., Art.: Herz, Jakob, S. 362; vgl. insbes. Ch. Kolbet, "Eine Type des Gemeinsinns" – Der Erlanger Professor Jakob Herz. In: Raumzeit, Zeitung für den Großraum Nürnberg-Fürth-Erlangen, Nr. 16 , 12. Juli 2002; vgl. [Anonym], Doktor Jakob Herz. Zur Erinnerung für seine Freunde, Nürnberg 1871). Diese Tätigkeit brachte vermutlich den jungen Militärarzt Anselm Feuerbach in nähere Beziehung zu Herz, so daß dieser in für Anselm kritischer Situation hilfreich eingreifen konnte. Feuerbach hebt in seinem Schreiben hervor, daß es gelungen war, Anselm "ohne Anwendung gewaltsamer Maßregeln" in die Heilanstalt zu bringen. Hierin drückt sich die Übereinstimmung des Philosophen, des praktischen Arztes und Chirurgen und des klinischen Psychiaters aus, das Phänomen psychischer Krankheiten und Störungen im Sinne eines aufgeklärten Humanismus unter Achtung der Menschenwürde statt durch bloße repressive Maßnahmen und Verwahrung vor allem durch menschliche Nähe und die Bemühung um Erkennung und Heilung anzugehen.

    Nach einer Mitteilung Feuerbachs an Wilhelm Bolin vom 20. August 1869 (Nachlaß W. Bolin, Universitätsbibliothek Helsinki) wollte sich Anselm 1869 in Happurg bei Gersheim als praktischer Arzt niederlassen. Er diente aber dann als Arzt im Stab des 3. bayerischen Jägerbataillons in Eichstätt, nahm im Deutsch-Französischen Krieg an den Schlachten bei Wörth, Sedan und an der Belagerung von Paris teil, war Stabsarzt im 17. bayerischen Infanterie-Regiment zu Germersheim. 1882 heiratete er die Kaufmannstochter Julie Boos aus Edersheim, mit der er zwei Kinder (Anselm Paul Friedrich (1883–1913), und Ottilie Bertha Sidonie (1885–1950) hatte. 1897 schied er als "charakterisierter Generaloberarzt" aus dem Militärdienst (vgl. "Die Nachkommen des Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach.", in: Ahnentafel des Malers Anselm Feuerbach. Bearb. von Peter von Gebhardt, Leipzig 1929, S. 4; vgl. auch J. Mayer, a. a. O., S. 312). Die Arbeit von Th. Spoerri, a. a. O., enthält kein Psychogramm Anselm Johann Ludwig Feuerbachs, des einzigen männlichen Nachkommen, der die Linie der bedeutenden Familie ins 20. Jahrhundert fortführte.

Anmerkung:

(1) Vorabveröffentlichung aus: "Ludwig Feuerbach und die Fortführung der Aufklärung", hrsg. v. H.-J. Braun (Zürich), Theologischer/Pano Verlag, Zürich, im Druck – mit Beiträgen von E. Kiss (Budapest), H. Metter (Zürich), U. Reitemeyer, J. Sieverding (beide Münster), W. Schuffenhauer (Berlin), F. Tomasoni (Roncadelle/Brescia) und H.-J. Braun. Dieser Band ist nun erschienen: H.-J. Braun (Hrsg.), Ludwig Feuerbach und die Fortsetzung der Aufklärung. Zürich: Pano Verlag, 131 S.(THEOPHIL. Zürcher Beiträge zu Religion und Philosophie herausgegeben von Helmut Holzhey und Fritz Stolz. 11. Bd.). Der hier abgedruckte Beitrag von Werner Schuffenhauer findet sich auf den Seiten 117-131.

(2) Hier lautet es z. B.: "Schon erscheint uns die alte Seelenlehre mit ihrem todten Formalismus und ihrer fächerigen Classification der Seelenvermögen als eine Wissenschaft des vergessenen ancien regime. Man verlangt nun auch hier anstatt gelehrten Wortkrames und historischer Bücherweisheit lebensvolle Auffassung, Naturwahrheit und vor Allem Verbannung der phrasen. Was aber diesen Umschwung einen ganz besondern Werth verleiht, ist dies, daß derselbe nicht blos, wie bei den anderen genannten Zweigen, auf der Überzeugung von der theoretischen Nothwendigkeit und praktischen Nützlichkeit einer neuen Richtung beruht, sondern daß er zugleich auch zum guten Theil eine Frucht der Humanität unseres Zeitalters ist."




Abbildungen

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1
Anselm Feuerbach
Kunstmaler


2
Anselm Johann Ludwig Feuerbach
Dr. med.


3
Stammbaum der Familie Feuerbach


Anselm Johann Ludwig Feuerbach




4
Curriculum vitae


5
Doktor-Dissertation


6
Promotionsurkunde


7
Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Hagen


8
Kreis-Irrenanstalt Erlangen


9
aus dem Grundbuch
(Patientenverzeichnis)


10
Prof. Dr. Jakob Herz


11
Ludwig Feuerbach


 Abbildungsnachweis (soweit nicht im Text angegeben)
Abb. 1O. Fischer, Anselm Feuerbach. Briefe und Bilder. Stuttgart 1922, Tafel 1 (Selbstbildnis Paris 1852. Kunsthalle Karlsruhe).
Abb. 2Th. Spoerri, Genie und Krankheit. Eine psychopathologische Untersuchung der Familie Feuerbach. Basel/New York 1952, S. 115.
Abb. 3Ahnentafel Ahnentafel des Malers Anselm Feuerbach (Zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages und zur 125. des Geburtstages seines Oheims, des Philosophen Ludwig Feuerbach). Bearb. von Peter von Gebhardt, Leipzig Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte 1929, S. 4.
Abb. 7150 Jahre Psychiatrie in Erlangen. 1846–1996. Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des Bezirkskrankenhauses Erlangen. Erlangen 1996, S. 14, Beitrag von E. Luscher.
Abb. 8Ansicht der Anstalt. 1846. In: 150 Jahre Psychiatrie in Erlangen. 1846–1996. Festschrift ..., a. a. O., S. 10.
Abb. 10Erlangen. Von der Strumpfer- zur Siemens-Stadt. Beiträge zur Geschichte Erlangens vom 18. zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von J. Saweg, Mitarb. H. Richter, Erlangen 1982, S. 225.
Abb. 11Ludwig Feuerbach um 1866. Heimatmuseum Bad Goisern, Konrad-Deubler-Gedächtnisstätte. Kurator: J. Pesendorfer.